Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
Kundin stapelte,
massierte Frau Kaiser meine Kopfhaut. Und sie tat es nicht weniger sanft und wohltuend
als Gizem. Nur dass ich diesmal versuchte wach zu bleiben, um ja kein Wort zu verpassen.
»Um es vorneweg zu sagen«, begann sie, »wer meiner Gizem auch nur ein
Haar krümmt, bekommt es mit mir zu tun. Und das wird kein Spaß. Das gilt übrigens
für alle, auch für Detektive, deren Bücher ich gern lese.«
»Noch ist es ja nur ein Buch«, grinste ich. »Und fürs Haare krümmen
sind schließlich Sie zuständig.«
»Wohl wahr. Kennen Sie Gizems Familie?«
»Vater und Bruder, ja.«
»Dann verstehen Sie vielleicht, warum ich mich für die Kleine so verantwortlich
fühle. Wobei Kleine natürlich Unsinn ist; ihr Bruder Fikret ist viel jünger als
sie, nach den Gesetzen des Patriarchats aber hat er das Recht und die Pflicht, seine
Schwestern zu drangsalieren.«
»In Vertretung des Vaters, der im Rollstuhl sitzt.«
»Korrekt. In Fikrets Haut möchte ich zwar auch nicht stecken, aber
das ist ein anderes Thema. Was meinen Sie, warum das Mädchen eine Ausbildung zur
Frisörin macht?«
»Sagen Sie es mir.«
»Wenn Sie Gizem fragen, wird sie Ihnen antworten: weil es ihr Traumberuf
ist. Und das Schlimme: Sie glaubt es auch noch!«
»Stimmt es denn nicht?«
»Hören Sie auf! Ein Beruf, den ihr der alte Ak s ehir ausgesucht hat, als sie noch nicht mal lesen konnte. Bis vorletztes
Jahr gab es hier in der Straße einen türkischen Frisör, bei dem hätte sie die Ausbildung
machen sollen. Und ihn anschließend heiraten, vermute ich. Das Kaiserschnitt war
nur zweite Wahl, aber immerhin. Hauptsache, die Familie hat jemanden, der von nun
an das Haareschneiden erledigt – so denkt sich das ihr Vater. Und damit die kleine
Gizem bloß nicht auf dumme Gedanken kommt, steckt man sie in die Hauptschule. Obwohl
sie es aufs Gymnasium geschafft hätte.«
»Meinen Sie?« Im Hintergrund trat Lena einen Schritt von ihrer Kundin
zurück. Die alte Dame war ein dreifarbiges Gesamtkunstwerk: Rot, lila und grün leuchteten
ihre Lockenwickler durch den Salon. Kurz danach verschwand sie unter einer riesigen
Trockenhaube, deren Betriebszeit sich ebenfalls digital einstellen ließ.
»Ja, das meine ich«, fuhr die Kaiser fort. »Gizem ist gescheit. Sie
liest gern, hat viele Interessen. Nur muss man die auch fördern. Stattdessen hält
man sie gefangen in diesem engen Türkenkosmos. Und sie ist nicht der Typ, um sich
aufzulehnen. Spielt lieber die Rolle des braven Töchterleins, das zu Hause wohnt
und sich seinen Eltern verpflichtet fühlt. In der Schule kam sie mit diesem Spagat
überhaupt nicht zurecht. War ständig unterfordert, ohne es zu merken, und wurde
genau in die Ecke gedrängt, in der sie ihr Vater haben möchte. Die meisten Lehrer
hielten sie für unbegabt.«
»Schallmo auch?«
»Hatte sie den überhaupt? Nein, wenn Sie jetzt denken, der Schallmo
hätte erkannt, was in Gizem steckt, täuschen Sie sich. Der wollte mit ihr ins Bett,
war ja so eine Art Sport von ihm, habe ich mir sagen lassen. Und dass unsere Kleine
auf so einen reinfällt, ist leider auch keine Überraschung.«
»Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Erst schon. Als sie merkte, dass ich der ganzen Sache nicht viel Positives
abgewinnen konnte, zog sie sich zurück. Bescheid wusste ich natürlich.«
»Die anderen hier auch?«
»Die Kolleginnen, ja. Aber alle haben geschworen, nichts weiterzuerzählen.
Vor allem Gizems Familie nicht.«
»Die Ak s ehirs sind also ahnungslos?«
Sie zuckte die Achseln. »Gift nehmen würde ich darauf nicht.«
»Hm.« Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Der Hass von
Vater und Sohn Ak s ehir auf Thorsten Schallmo
nahm immer konkretere Formen an. Fikret verachtete seinen Ethiklehrer ohnehin schon
wegen dessen laxer Moral; wenn nun noch eine Affäre mit Gizem dazukam, summierte
sich das zu einem Motiv, das für alles taugte. Meinetwegen auch für einen Mord.
Oder tappte ich gerade in das nächste Fettnäpfchen? Das mit den Türkenklischees?
Nein, das Motiv funktionierte auch bei deutschen Familien. Es gab nur eine Bedingung:
Die Ak s ehirs mussten von dem Verhältnis
erfahren haben.
»Na, habe ich Ihnen das Richtige empfohlen?«, fragte die Frisörin.
»Mit der Massage? Richtiger geht nicht. Ich glaube, bei mir kommt sie
ganz besonders gut, weil nicht so viele Haare im Weg sind. Wussten Sie eigentlich,
dass Gizem noch am Dienstag mit Schallmo telefonierte? Wenige Stunden vor seinem
Tod?«
»Nein, das wusste ich
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