Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
fühle mich einerseits befreit, andererseits völlig ausgeliefert. Nackt. Kein Wunder, das bin ich ja auch, selbst wenn es niemand sieht. Mir kommt es aber so vor, als würde jeder sehen können, dass ich keine Unterhose mehr trage. Dabei ist noch nicht mal jemand in der Nähe, und ich komme mir trotzdem schon angegafft vor. Wie eine Exhibitionistin wider Willen. Vielleicht sollte ich einfach ganz schnell mal nach Hause gehen und mir einen konventionellen Schlüpfer anziehen.
Dieser eindeutig gute Plan wird von meiner Mutter vereitelt, die geradewegs auf mich zueilt, meinen Vater wie einen ungezogenen Dackel hinter sich herziehend.
»Silke, da bist du ja endlich!«, ruft sie aufgedreht durch ihre rot geschminkten Lippen.
»Wieso? Ich bin schon die ganze Zeit da. Wo wart ihr?«
»Dein Vater musste noch ein paar Schnecken salzen. Er nimmt jetzt immer das Salz mit Jod, Fluor und Folsäure. Das funktioniert hervorragend!«
»Ich denke, ihr mögt keine Schnecken?« Ich kann mir meinen Vater schlecht vor einem Teller voller Weinbergschnecken vorstellen, und noch weniger, dass meine Mutter, die Queen of Conveniance-Food, welche zubereitet.
»Ja, genau darum geht es doch! Er streut Salz auf diese ekligen, braunen, spanischen Nacktschnecken, und dann schäumen sie und gehen ein. Mit Jod, Fluor und Folsäure.« Sie sagt das mit nicht zu knappem Jagdstolz und präsentiert meinen Vater wie eine Trophäe. Ich versuche, ihn mir in Großwildjägermanier vorzustellen, mit dem Fuß auf einer erlegten Nacktschnecke, während meine Mutter seinen Triumph über die aggressive Kreatur dokumentiert. Schwierig.
»Ist ja widerlich«, sage ich nur.
»Wieso?«, fragt sie scheinheilig zurück. »Diese Biester fressen mir sonst den ganzen Garten kahl. Außerdem gehören die nicht hier her. Hier sind die schwarzen Nacktschnecken heimisch, nicht die braunen. Die sind aus Spanien eingewandert.«
Ich verzichte lieber auf eine Diskussion zum Thema Ausländerfeindlichkeit bezüglich Schnecken und bemerke: »Die Band hat angefangen zu spielen.«
»Ja, dann nichts wie rein ins Zelt!« Mutti sprintet los, nun meinen Vater und mich hinter sich her schleifend.
Über das Schlammloch hat inzwischen jemand Pappe gelegt, die fängt zwar schon an, an den Rändern durchzuweichen, aber noch kann man sie halbwegs gefahrlos überqueren. Meine Mutter schreitet stolz darüber, als hätte man extra für sie einen roten Teppich ausgerollt. Als sie den ziemlich genau zu zwei Dritteln gefüllten Saal betritt, nehmen mindestens die Hälfte der Anwesenden ihr Erscheinen sofort wahr, die andere Hälfte wird schleunigst darauf hingewiesen. Ja, sie hat es raus. Sie ist mindestens die Sabine Christiansen der Feuerwehrbälle.
Mutti schnappt sich einen strategisch günstigen Stehtisch am Rande der Tanzfläche. Von dort aus kann man den ganzen Saal überblicken und wird, das ist noch wichtiger, von allen gesehen. Meinen Vater schickt sie an die Bar, er soll Getränke holen, »Caipi für alle!«, obwohl er sicher lieber Bier trinken würde. Er widerspricht nicht, denn der Abend ist noch frisch und die Zeit für Bier kommt bestimmt noch. Er hat Geduld. Muss er auch haben. Sonst hätte er es nie mit meiner Mutter ausgehalten.
Während wir auf die Cocktails warten, die hier auch nichts anderes sind als Schnaps mit ein paar Limonenscheiben und viel Zucker drin, begutachten wir die Band. Es ist, wider Erwarten, nicht Freddy Mercury mit Queen, sondern Cher mit Truck Stop.
Mutti zeigt auf den Mann, der neben dem Keyboarder steht: »Der da hat mal bei Cats Musik gemacht.« Sie sagt das, als sei das erstens ein besonderes Qualitätsmerkmal, eine Art Gütesiegel für Tanzbands, und zweitens, als hätte sie höchstpersönlich ein neues Talent am Pophimmel entdeckt. »Der kann wunderbar Saxophon spielen. Das soll er jetzt mal machen!«
Ihr Wunsch – oder war es ein Befehl? – geht sofort in Erfüllung. So kommt I've got you, habe zu einem bisher so noch nie gehörten Saxophonsolo. Mutti wippt im Takt mit. Doch ganz zufrieden ist sie nicht. »Das muss Playback sein. Die Sängerin ist zu gut.«
Die Frontfrau von Midnight Affair , so der Bandname, ist wirklich eine ziemlich überzeugende Cher-Kopie. Ihr Haar ist lang, glatt und ebenholzschwarz, sie trägt lächerlich wenig Kleidung, und das bisschen, was sie anhat, hängt ihr in dekorativen Fetzen vom durchtrainierten Leib. Aber ihre Stimme ist wirklich toll. Zu gut, um echt zu sein. So etwas ist man hier nicht gewohnt.
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