Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
anständig prügeln, statt mich anzustarren. Aber verlassen kann man sich darauf nicht, deshalb sprinte ich los, vorwärts, raus aus dem Zelt, verfange mich mit dem rechten Absatz in der aufgeweichten Pappe, verliere das Gleichgewicht, kann mich mit einem beherzten seitlichen Ausfallschritt noch gerade retten und versinke mit dem linken Fuß knöcheltief im Schlamm. Doch das kann mich nicht stoppen, die weiche Masse macht ein schmatzendes Geräusch, als sie mein Bein und den nicht mehr sehr goldenen Schuh unwillig freigibt. Ich eile weiter. Vorbei an den mückenfangenden Fischbrötchenverkäufem, die ihre Beute als kleine Strecke auf dem gläsernen Tresen ausgelegt haben. Vorbei an der Schießbude, in der eine traurige Plastikrose schon auf halb acht hängt, immer wieder von zwei Besoffenen beballert, die vom spannenden Spezialamüsement in der Sektbar noch nichts mitbekommen haben. Verfolgt von einem schmachtenden Saxophonsolo, das sich mühsam einen Platz in der Durchhaltehymne I am What I am erkämpft: »I am my own special creation« , intoniert Cher inbrünstig, während ich renne, so schnell ich kann und dabei denke: Ich bin gar keine Kreation, weder meine eigene noch besonders speziell. Ich bin einfach nur ich – und wer das sein könnte, das weiß selbst ich im Moment nicht so genau. Aber darauf kommt es ja jetzt auch gar nicht an.
8. Kapitel:
Weil ich es mir wert bin
Freitag, 13. Mai, später
Ich reiße die Haustür auf und stürme die Treppe hinauf. Unten sitzen Heiners Eltern und sehen fern, die Getränke sind zuhause einfach günstiger. Auf dem Feuerwehrball wären sie natürlich auch, so wie alle anderen, aber Heiners Mutter zieht es vor, immer sehr schnell nach Hause zurück zu gehen, denn sonst käme ihr Mann eventuell noch in die Verlegenheit, eine Runde ausgeben zu müssen. Und das sollte man nicht riskieren, davor warnen sämtliche Pfennigfuchser-Ratgeber.
Die Reisetasche nehme ich lieber nicht, denn die gehört Heiner und ich möchte nicht, dass er mir später mal Diebstahl vorwirft. Eigentlich soll er mir gar nichts vorwerfen, vielmehr sollte ich diejenige sein, die sein Verhalten kritisiert.
Unter der Spüle finde ich zwei große Aldi -Tüten, in die ich ziemlich wahllos Klamotten stopfe. Zwei Hände voll aus der Unterwäscheschublade (zur Not habe ich ja immer noch einen String in der Handtasche), eine Ladung Socken (vor allem meine rosaroten Glückssocken, die Oma mal für mich gestrickt hat), die oberen fünfzehn Zentimeter aus dem T-Shirt-Fach, meine beiden Lieblingsjeans und was mir sonst noch in die Quere kommt. Ein paar Turnschuhe stopfe ich dazu, auf die Idee, meine schon reichlich mitgenommenen High-Heels auszuziehen, komme ich einfach nicht. Stilvoll wäre es ja, meine Hälfte des Kleiderschrankes komplett leer zu räumen und nur ein paar verwaiste Bügel hängen zu lassen, um den dramatischen Effekt zu erhöhen. Aber erstens passt das ganze Zeug nicht in die Tüten, und zweitens würde Heiner das wahrscheinlich gar nicht auffallen, da er sich manchmal tagelang seine T-Shirts vom Boden aufklaubt, wo er sie nach dem letzten Tragen hat fallenlassen, und von seiner Mutter direkt mit frischen Hemden und Hosen versorgt wird. Und seine Socken und Unterwäsche bewahrt er in seinem Nachttisch auf, angeblich, weil ich ihm dafür nicht genug Platz im Schrank lasse. Na, den kann er jetzt haben, den Platz und meinetwegen den ganzen Schrank. Da passen mindestens drei Geliebte gleichzeitig rein. Aber vor wem sollten die sich verstecken, wenn ich erst mal weg bin?
Ich packe noch schnell mein Kulturtäschchen zusammen. Die gemeinsame Zahnpasta muss mit, da kann ich leider keine Rücksicht nehmen. Und natürlich muss mein Lieblingsteddy mit. Das ist zwar peinlich, aber ohne ihn bin ich noch nie verreist. Er ist einfach der geduldigste Zuhörer und das beste Mittel gegen Heimweh. Hat auf jeder Klassenreise geholfen, durfte natürlich niemand wissen. Aber als Jörg damals auf Norderney beim Flaschendrehen lieber Linda einen Hollywoodkuss (Augen zu und ganz weit zurücklehnen) geben wollte, war mir Teddy Trost und Tränentrockner. Zuhause komme ich ganz gut ohne ihn klar, da reicht es mir, dass ich weiß, er liegt in der Schreibtischschublade. Auf meinem Reisepass. Den stecke ich gleich auch noch ein, man kann ja nie wissen. Und meine EC- und die Kreditkarte. Ich muss schon sagen, meine Flucht ist ziemlich gut organisiert.
Mit den blau-weißen Tüten in der Hand husche ich die Treppe hinunter, aus
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