Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
Tüten. Mein Kleid ist dort auch besser aufgehoben, also lasse ich mich nackt ins Wasser gleiten, nehme die provisorischen Gepäckstücke, die ich vorsichtig an ausgestreckten Armen über Wasser halte, und wate durch den muddeligen Teich an Land. Mit einem meiner T-Shirts trockne ich mich ab (ein Handtuch habe ich leider nicht eingepackt), ziehe mir endlich wieder einen diesmal seht reellen Schlüpfer an (viel Stoff!) und das Kleid wieder über.
Wie komme ich jetzt hier weg? Zu Fuß? Ausgeschlossen. Meine armen Zehen und Ballen wurden heute schon genug strapaziert. Ein anderer Wagen kommt nicht in Frage, ich will niemanden bestehlen. Auf der Weide nebenan wiehert es. Ein Pferd! Wie romantisch! Auf dem Rücken eines prächtigen Rappen ziehe ich in die große, weite Welt, mein Glück zu finden.
Blödsinn. Erstens ging das anders: Ein Prinz kommt auf einem Schimmel daher. So wäre das richtig. Aber ich bin viel zu realistisch, um auf solche romantischen Spinnereien hereinzufallen. Ich würde jeden dahergerittenen Prinzen sofort als Lügner und Heiratsschwindler identifizieren. Zweitens ist das Pferd, von dem das Wiehern kommt, genau genommen gar kein richtiges Pferd, sondern das Shetlandpony von Bauer Harms' Tochter. Die ist in die Pubertät gekommen und so schnell gewachsen, dass ihr das possierliche Tierchen nur noch knapp bis zum Knie reicht. Das Minipony würde wahrscheinlich gerade mal eine meiner Tüten tragen können. Außerdem kann ich gar nicht reiten. Und ich habe auch nicht vor, es jetzt in einem autodidaktischen Schnellkurs zu lernen.
Die letzte Möglichkeit, die mir einfällt: mein Fahrrad. Hinten in der Garage steht es, das alte Ding. Rostig und klapprig, aber soweit ich mich erinnern kann, fahrbereit. Ich fahre so gut wie nie Fahrrad. Als Kind war ich eine furchtlose Drahteselbeherrscherin, konnte freihändig den steilen Schulberg runtersausen und astrein auf dem Hinterrad fahren – sogar auf dem alten, schweren Adler-Rad von meiner Oma, obwohl das nahezu unmöglich ist. Doch dann kam der Tag des Hochgeschwindigkeitsrennens auf Rollsplit. Mit ordentlich Karacho sind wir die abschüssige Piste hinunter gebrettert, ich wollte gerade zum Überholen ansetzen und die Spitze erobern, da hat mich Ralf-Georg – wer sonst? – scharf ausgebremst. Mein Vorderrad krachte gegen sein Hinterrad, ich verriss das Lenkrad, verlor das Gleichgewicht und schlitterte bäuchlings über die Straße. Ich trug kurze Hosen und ein T-Shirt, der Rollsplitt fraß sich unter meine Haut. Das brannte höllisch. Noch heute habe ich Narben an den Knien und Händen. Seitdem fahre ich nur noch sehr selten Fahrrad. Und nur ungern. Aber jetzt muss es wohl sein.
Ich ziehe die alte Gurke hinter einer verwaisten Tischtennisplattenhälfte hervor. Zum Glück ist eine Luftpumpe dabei, die Reifen sind nämlich vom langen Stehen schlapp geworden. Ich bin schon ganz schön groggy, aber das Aufpumpen gelingt mir trotzdem. Mit je einer Tüte rechts und links am Lenker, den Rock seitlich zu einem dicken Knoten geschlungen, eiere ich davon. Ich hätte mir meinen Abgang ja etwas rasanter vorgestellt, doch ich bin sehr froh, dass es mir überhaupt gelingt, das Dorf zu verlassen.
Als ich die gerade, einsame Landstraße entlang radele, habe ich das Gefühl, von tausend Rehen angestarrt zu werden. Dieses etwas bizarre, aber noch ganz angenehme Gefühl weicht bald einer diffusen Angst, es könnten auch diverse Wegelagerer am Straßenrand lauern. Unweigerlich fallen mir sämtliche Gruselgeschichten wieder ein, die ich je in meinem Leben gehört habe. Inklusive die von dem Tramper, der die Axt im Wagen zurücklässt, und die von der Frau, die nach einer Panne im Auto auf ihren Liebsten wartet, während ein irrer Mörder mit dessen abgehacktem Kopf auf dem Dach herum trommelt. So gesehen ist es vielleicht ganz gut, dass ich nicht mit dem Corsa gefahren bin. Dann blendet mein Gehirn liebenswürdigerweise noch die gesamte Berichterstattung zum Heidemörder und zum Göhrdemörder ein. Erster wurde gefasst, letzterer nicht. Okay, ich bin hier weder in der Heide noch in der Göhrde, aber von beidem immerhin nicht so weit entfernt. Aber das wäre doch wirklich ein dummer Zufall, wenn ausgerechnet heute Nacht ausgerechnet hier jemand ausgerechnet auf mich lauern würde ...
Lieber nicht weiter daran denken!
Lieber ein Lied singen. Ich versuche es mit Dancing Queen von Abba, aber ich treffe den Ton nicht. Im Auto wäre das etwas anderes, wenn dort meine
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