Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
selten sehen. Sogar, wenn sie in ausgerechnet diesem Moment eine heiße Liebesnacht mit eben jenem raren Herzallerliebsten verbringen. Ich stelle mir lieber nicht vor, wie Brigitte zu Wolfgang sagt: »Ja, Schatz, ich komme gleich, uh, ah, ja, mach weiter so, aber erst muss ich mal kurz ans Telefon gehen und etwas mit Silke plaudern«, sondern tippe einfach ihre Nummer.
»Guten Tag, hier ist die Mailbox von krchhkrchhhhüstelähhBrigitte. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Tonzeichen.«
Okay, es gibt wirklich niemanden. Zumindest im Moment nicht. Wie lange dauert dieser Moment? Kann man überhaupt noch von einem Moment sprechen, oder bin ich vielleicht schon eine Ewigkeit allein? So kommt es mir jedenfalls vor. Vielleicht sollte ich Mutti ...? Aber nein! Ich verwerfe diesen Gedanken sofort. Meine Eltern nehmen grundsätzlich nach halb zehn keine Telefongespräche mehr entgegen, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall. Und weil das alle wissen und deshalb niemand mehr nach halb zehn anruft, würden sie sofort denken, es sei etwas Schlimmes passiert. Und dann darf ich mir den Mund fusselig reden, um zu erklären, dass es völlig normal und in keinerlei Weise beunruhigend ist, wenn ihr einziges Kind sich nachts im Dickicht herumtreibt. Oder ich muss Details zur Heiner-Monique-Affäre erzählen – oder mir welche anhören. Bitte nicht! Allerdings war Muttis Sektkübelnummer spitze. So gut hätte ich das nie hingekriegt. Wahrscheinlich sind meine Eltern noch gar nicht zuhause, sondern tanzen fröhlich auf dem Feuerwehrball; die Schlägerei dürfte inzwischen vorbei sein, danach machen bestimmt alle unbeirrt weiter mit Feiern. Oder sie sind zum Nachtvesper zu irgendwelchen Bekannten nach Hause gegangen, um dort gründlich die Vorratskammer zu plündern.
Ich stelle mir vor, dass ich mich an einem Schokoriegel verschlucke, keine Luft mehr bekomme und jämmerlich ersticke. Niemand wüsste, wo ich bin, und es würde Monate dauern, bis man mich findet, und dann noch mal Monate, bis meine Identität geklärt ist und mein in der Zwischenzeit natürlich nicht mehr ganz taufrisch aussehender Leichnam endlich würdig bestattet werden kann. Bis dahin haben mich alle schon so weit vergessen, dass keinem mehr eine vernünftige Rede gelingt, über mein Leben und wie ich so war. Das macht mich so traurig, dass ich mich an einem Schokoriegel verschlucke und heftig anfange zu husten. Ich bekomme keine Luft mehr und fange an zu röcheln.
Meine Tante hat mal auf offener Straße ein Mon Cherie gegessen, ziemlich gierig, wie sie zugibt, und dann keine Luft mehr bekommen. Ein von aufgeregten Passanten herbeigerufener Rettungswagen hat sie ins nächste Krankenhaus gebracht, dort musste ein Luftröhrenschnitt gemacht werden. So etwas stelle ich mir selbst von professionellen Kräften durchgeführt nicht gerade angenehm vor. Neulich habe ich im Fernsehen bei einer Survival-Soap gesehen, dass man das notfalls auch mit einem Kugelschreiber machen kann. Aber ich habe keinen Kugelschreiber! An was hätte ich denn beim Packen noch alles denken müssen?
Mit letzter Kraft keuche ich ein hartes Nussbröckchen aus meiner Luftröhre und falle danach dem Waldlärm zum Trotz in einen tiefen Dornröschenschlaf.
***
Samstag, 14. Mai
Völlig gerädert wache ich auf. Ich brauche einfach mehr Komfort! Ich sehne mich nach einer etwas wohnlicheren Umgebung. Sollte ich ein Baumhaus bauen? Nein, blöde Idee, ich habe ja noch nicht mal Werkzeug dabei.
Etwas benommen sehe ich mich um. Die Sonne steht hoch am Himmel. Selbst ohne nennenswerte Pfadfinderausbildung erkenne ich, dass es Mittag sein muss – ich habe also erstaunlich lange geschlafen. Als ich mich aufsetze, spüre ich die Nachwirkungen deutlicher als vorher – mir tut alles weh.
Ich gehe ein paar Schritte, an den Waldrand und richte meinen Blick in die Ferne. Da vorne steht eine alte Scheune. Sieht aus, als würde es dort reinregnen. Dann kommen Felder und dahinter, ganz gerade noch so zu erkennen: Die Werbefahnen der Musterhaussiedlung, die ich mit Mutti besichtigt habe. Einladend sieht das aus. Heimelig. Bestimmt ist Herr Wesseltöft schon dort. Sitzt gemütlich in der Wohnlandschaft und wartet auf Kunden. Oder auf mich? Verzückt verspeise ich einige Schokoriegel zum Frühstück.
Genau, das ist es: Ich werde in den Massivhauspark fahren. Ich werde ihn auskundschaften. Und dann werde ich heute Nacht dort probewohnen! Außerhalb der Öffnungszeiten ist da doch nichts los, und
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