Schlüsselherz (German Edition)
vernahm. Neben der Ku t sche der Kundin hielt ein zweiter Wagen. Wie ungewöhnlich, norm a lerweise war der Stadtteil wie ausgestorben. Nein, korrigierte er sich: dieser Stadtteil war vor Jahren ausgestorben. Darum wohnte er ja hier.
Aus der zweiten Kutsche sprang ein junger Mann heraus und in Nathaniels Brust regte sich etwas, das ihn an Freude erinnerte. Na so etwas. Valender Beazeley kam ihn besuchen.
„ Miss, Sie müssen jetzt gehen. Wir haben Ihr Bild wohl auch hi n reichend lange besprochen.“
„ Malen Sie es jetzt?“ Sie trat neben ihn, sah über seine Schulter. „Wer kommt da? Liefert er die Farben?“
„ Da kommt meine Muse, Miss, und diese wird mich küssen. Ich muss Sie daher wirklich bitten, zu gehen, der Anblick ist weit wen i ger ästhetisch, als Sie sich das vorstellen.“
Die Lady bekam einen hochroten Kopf. Rasch ließ sich Nathaniel auf die verunstaltete Zeichnung fallen, um das nicht länger diskuti e ren zu müssen. Mit einem „ Husch, husch!“ und der dazu passenden Geste scheuchte er sie aus seinem Salon, um daraufhin sofort wieder aufzuspringen und Valender an der Tür zu erwarten.
Die Laune des Buchhändlers schien nicht besser als seine eigene eben noch gewesen war. Seine Lippen waren ein schmaler Strich und sein Hals war rot vom heruntergeschluckten Zorn. Was war denn jetzt wieder in ihn gefahren?
„ Valender. Was für eine unerfreuliche Überraschung!“, rief er, still darauf hoffend, dass der andere ihn trotz seiner Worte verstand. Denn er mochte es vor ihm nicht zugeben – aber er freute sich, Beazeley zu sehen.
Valender stapfte auf ihn zu und hielt ihm ein zusammengedrücktes Stück Zeitungspapier so nah vors Gesicht, dass er die Drucke r schwärze riechen konnte. „Ist das wieder eine deiner Lügengeschic h ten? Kannst du mir das erklären? Hast du etwas damit zu tun?“
Nathaniel schlug Valenders Hand weg und nahm ihm dann den herausgerissenen Artikel ab. Beim Überfliegen der Schlagzeile verging ihm die zotige Antwort, die er hatte geben wollen. „Oh, ve r dammt.“
Der Bericht handelte von Yasemine. Sie war aufgetaucht, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatten ihren Körper im Wasserwerk gefunden. Leblos. Die Brust aufgeschlitzt, den Schädel geöffnet, die Uhrwerk-Organe herausgenommen. Davon fehlte jede Spur.
„ Auffällig“, las Nathaniel leise vor, „ist eine oberflächliche Verle t zung an der Wange der seit drei Wochen vermissten Puppe. Es ha n delt sich um zwei Striemen, die ein Kreuz bilden. Laut der Polizei steht zu vermuten, dass sich die Puppe diese Wunden selbst zugefügt hat.“
Valender sah Nathaniel auffordernd an. „Weißt du irgendetwas?“
„ Wie kommst du drauf? Warte. Lass uns reingehen, ehe die Nac h barn sich noch wundern.“
„ Welche Nachbarn?“, murmelte Valender, trat aber ein und ging zielstrebig nach oben ins Atelier. Eine sch…lechte Idee, fand Nath a niel, aber darauf kam es nun auch nicht mehr an. Er hatte die letzten beiden Wochen dort gelebt – eher gesagt: gehaust, und dementspr e chend verwohnt sah es nun aus. Um das Sofa, auf dem er mit allen Katzen geschlafen hatte, tummelten sich leere Flaschen, verbeulte Keksdosen und unzählige Pappkartons vom italienischen Lieferse r vice, der aus katholischem Aberglauben heraus nicht in dieses Viertel lieferte, sodass Nathaniel sein Essen ständig holen musste.
Valender ließ den Blick über das Chaos schweifen und seufzte. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Mein Gefühl sagt, dass du uns helfen willst, aber Lyss …“
„ Ist eine gottverdammte Lügnerin.“
„ Nein, lass mich ausreden. Lyss hat mir Fotos gezeigt. Fotos, auf denen du ein Grab ausräumst.“
„ Herrgott, das verdammte Mumienzeug!“, rief Nathaniel, so laut, dass die graue Mrs Charles die Flucht ergriff. „Man braucht Mumien für meinen berühmten, braunen Farbton.“ Er verfluchte den Tag, an dem er angefangen hatte, mit Mumiensubstanz zu malen, auch wenn die Bilder einen reichen Mann aus ihm gemacht hatten. Inzwischen hatte er vermutlich schon ganze ägyptische Familien auf die Lei n wand gebracht, nebst sämtlicher Schwager, Schwippschwager und aller unehelichen Kinder. Sein Karma musste so verdorben sein, wie die Abwässer, die aus der Hölle flossen.
„ Kunst aus Leichen?“, fragte Valender irritiert.
Nathaniel nickte betreten und kam sich zum ersten Mal in seinem Leben schäbig vor. Er machte das seit Jahren und hatte sich nie mehr dabei gedacht als „was soll’s?“. Warum
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