Schluß mit cool (German Edition)
ihn nicht lange genug im Haus, um sich wirklich an ihn zu gewöhnen, so wie sie an die Wände, die Möbel und die Katzen gewöhnt war, und sein Tod stellte deshalb, wenn er auch schmerzlich an unser aller Schicksal gemahnte, nicht den schwerwiegenden Einschnitt für sie dar, der er ansonsten hätte sein können. Er war da, und dann war er weg. Ich habe kein Problem damit.
Ihre Handtasche
Ihre Handtasche war immer ein Stein des Anstoßes zwischen uns – oder vielmehr ihre Handtaschen . Sie schien eine grenzenlose Anzahl davon zu besitzen, mindestens eine für jede erdenkliche Gelegenheit – vom Dinner im Weißen Haus bis zur Wildschweinjagd in Kentucky –, und alle waren sie vollgestopft mit entwerteten Eintrittskarten, Kreditkartenquittungen, zerknüllten Taschentüchern, Katzenhalsbändern, Kaugummipapier, zerbrochenen Brillen, Make-up in diversen Eintrocknungsstadien, zerbröselten Glückskeksen, Fetzen der Grundschulzeugnisse unseres Sohnes, Brettspielwürfeln, Milchzähnen, leeren Tic-Tac-Döschen, Schlüsselringen, Reizgas-Sprayflaschen und einem feinen Gemenge aus Krümeln, Schuppen und Nagellackresten. Nur in einer davon fanden sich indes auch ihr Scheckbuch und das Portemonnaie. Das war die magische, die unerläßliche Tasche, die sie jedesmal wenigstens eine halbe Stunde lang suchte, wenn wir ausgingen, besonders wenn wir auf dem Weg zum Flughafen, ins Theater oder zu einer Abendeinladung bei peniblen Menschen von meiner Sorte waren, die ausdrücklich punkt acht Uhr gesagt hatten.
Nicht daß ich mich beklage. Meine Witwe lebte ein gelassenes, entspanntes Leben und war keine Sklavin ihres Terminkalenders wie so viele von uns damals. Sogar in Krisen ging von ihr Ruhe aus. Wenn die Lage einmal besonders schlimm wurde – während des Erdbebens von 05 zum Beispiel –, kochte sie sich erst mal etwas Schönes, eine Gemüsepfanne oder eine Hühnersuppe, und legte sich dann kurz aufs Ohr, um die Dinge in die rechte Perspektive zu bringen. Was machte es denn aus, daß der Film um 19.45 Uhr anfing und wir erst halb neun hinkamen? Es war doch viel interessanter, sich selbst zusammenzureimen, was zwischen den handelnden Personen inzwischen passiert war, während wir noch nach der Handtasche suchten, den Wagen parkten und Hand in Hand die belebte Straße entlanghasteten. Die Welt konnte warten. Wozu die Eile?
Auf jeden Fall ist genau diese Totemtasche nach ihrem Einkaufsbummel nicht mehr aufzufinden. Sie und ihre Schwester waren in einem Wirbelsturm von Päckchen bei ihr zu Hause eingetroffen, und nachdem sie noch auf der Einfahrt ihre Einkäufe sortiert und drei Armvoll vom Wagen ins Haus geschleppt haben, trennen sie sich, gerade als die Dämmerung die Vögel in die Bäume treibt und das Dunkel in den Wedeln der Baumfarne dichter werden läßt, die ich vor dreißig Jahren gepflanzt habe. Inge bleibt nicht zum Abendessen, und übernachten will sie schon gar nicht. Sie ist begierig darauf, zu sich nach Hause zu kommen, wo sie ein Topf Hühnersuppe und ihr eigenes Katzenkontingent erwarten. »Also dann«, sagt sie und wirft einen letzten Blick über das Tohuwabohu aus Päckchen auf dem Tisch, »dann fahr ich mal«, und die Haustür schließt die Stille wieder ein.
Es vergehen Tage. Meine Witwe bringt ihre Alltagsroutine hinter sich, ohne einen Gedanken an die Tasche zu verschwenden, bis sie, weil das Katzenfutter langsam zur Neige geht, einen Ausflug zum Supermarkt ins Auge faßt, und zwar mit dem uralten, verbeulten hennaroten BMW M 3, der mein ganzer Stolz und Fahrgenuß war, und entdeckt, daß keine der Handtaschen, die sie aufstöbert, ihr Portemonnaie enthält, auch nicht die Schlüssel oder ihre Brille (ohne die sie den Wagen nicht einmal sehen, geschweige denn lenken kann). Während die Katzen sich um sie scharen und laut ihren Unmut äußern, versucht sie, die Bewegungen der letzten Tage gedanklich zurückzuverfolgen, und zieht den Schluß, daß das Portemonnaie im Auto ihrer Schwester liegen muß. Sicher, das ist es. Natürlich. Es sei denn, sie hat es auf dem Ladentisch bei Rubys Schnäppchenschwemme oder im Tiefpreis-Keller oder gar im Kaufhaus Macy’s vergessen. Aber wenn es so wäre, dann hätten die ja angerufen, oder?
Sie versucht ihre Schwester zu erreichen, aber Inge hält nicht viel vom Telefonieren, eine Kauzigkeit, die sie mit den Jahren entwickelt hat. Wozu denn? denkt sie. Wer kann es schon sein, von dem sie etwas hören wollte? Gibt es in ihrem Alter noch Neuigkeiten, die nicht warten
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