Schluß mit cool (German Edition)
Literatur zu sein. Er brachte seine Besoffen-mit-Bukowski-Geschichte, die man aus jedem seiner Interviews der letzten zwanzig Jahre schon kannte, dann die Story von seiner Reise durch Rußland mit nichts als einer Jeans, einem Paar Socken und seiner Lederjacke, weil man ihm das Gepäck geklaut hatte, das obligatorische Erlebnis-mit-einem-Filmstar und drei oder vier Fragen-Sie-mich-bloß-heute-nicht-danach-Anspielungen auf seine wilde Vergangenheit. Ich saß da wie ein Verurteilter, der auf die Todesspritze wartet, ein festgefrorenes Lächeln auf den Lippen. Es juckte mich auf der Kopfhaut, in beiden Nasenlöchern, sogar zwischen den Beinen juckte es. Ich kämpfte um meine Beherrschung.
Und dann führte er den letzten Streich – der kam so rasch und jäh wie ein Meteor, der heulend aus dem Weltraum hereinraste, um wider alle Wahrscheinlichkeit mitten durch das Dach des Auditoriums zu krachen und sich genau in den Nacken meines schwindelnden Kopfes zu bohren: mein Vater hob die Hand, um anzuzeigen, daß es der Witze nun genug sei, und die Zuhörer verstummten abrupt, als hätte er um jede einzelne Kehle eine Schlinge gezurrt. Auf einmal war er professoraler als alle Professoren – man vernahm kein Murmeln mehr im Saal, nicht einmal ein Husten. Er hielt ein Buch hoch, zog eine Drahtbrille hervor – reine Requisite, keine Frage – und blickte dann direkt zu mir herab. »Der Text, den ich heute lesen möchte, ist aus Blutsbande , und ich habe ihn schon lange einmal öffentlich vortragen wollen. Es ist ein zutiefst privater Text und auch ein sehr schmerzhafter, aber ich lese ihn heute abend als eine Art tätige Reue. Ich lese ihn für meinen Sohn.«
Er klappte das Buch mit langsamer, schwermütiger Bedächtigkeit auf, die alle anderen bestimmt höchst einnehmend fanden, aber für mich war er in diesem Moment ein Terrorist, der einen Koffer voller Sprengstoff öffnete, und ich versank in meinem Sitz, fühlte mich so kläglich wie noch nie zuvor im Leben. Das kann er nicht tun, dachte ich, das kann er einfach nicht. Aber er tat es. Schließlich war es seine Show.
Und dann fing er an zu lesen. Zuerst hörte ich die Worte gar nicht, wollte nichts hören – ich war wie betäubt, hypnotisiert von der seltsamen Intensität seiner Stimme, die auf einmal durchdringend und nasal klang, von einem gebrochenen Rhythmus getragen, der das Gelesene so klingen ließ, als übersetzte er den Text vom Blatt aus einer anderen Sprache. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich kapierte: das war seine Lesestimme, auch wieder so eine Affektiertheit. Sobald ich das bewältigt hatte, nahm ich auch die Worte selbst wahr, lauter kleine Geschosse, die alle auf mich zielten, das arme Opfer, den Pechvogel von Sohn, der am liebsten einfach in dem Unglück liegengeblieben wäre, in das er geraten war. Er las die Passage, in der der von Schuldgefühlen zerfressene, aber lüsterne Vater seinen vierzehnjährigen Sohn ins beste Restaurant der Stadt ausführt, für ein Gespräch unter Männern über diese Lüsternheit, über Träume, über Verantwortung und über das Familienleben, das ihn so erdrückte. Ich versuchte mich zu verschließen, aber es ging nicht. Meine Augen brannten. Niemand im Saal sah noch auf ihn – wieso auch? Nein, sie alle sahen auf mich. Auf meinen Hinterkopf. Sahen die zum Leben erwachte Literatur.
Ich tat das einzige, was mir übrigblieb. Als er an die Stelle kam, wo der Sohn, Tränen in seine Mousse au chocolat verströmend, die Frage stellt: Warum, warum, Vater, warum? , da stand ich auf, ganz einfach, mitten aus der vordersten Reihe, unter all den Blicken, die mich durchbohrten. Ich entriß Victoria meine Hand, starrte den Biographen und Dr. Delpino und alle übrigen nieder und stapfte geradewegs zum nächstgelegenen Ausgang hinaus, während die verstärkte Stimme meines Vaters schwankte, zögerte, dann aber wieder kraftvoll weitersprach, alles in Ordnung, nichts passiert, nichts, was ein bißchen Literatur nicht kurieren könnte.
Ich weiß nicht, was bei dem gedämpften und nur ansatzweise feierlichen Essen später an diesem Abend zwischen ihm und Victoria passiert ist, aber ich vermute, relativ wenig, wenn überhaupt irgendwas. Das war nicht das Problem, und das wußten wir beide – das heißt sie und ich. Ich versteckte mich die Nacht über in der 24-Stunden-Automatenwäscherei zwischen Brewskies Kneipe und dem Taco Bell, am Morgen frühstückte ich in einem Schmuddelimbiß, in den sonst nur die Einheimischen gingen, und zog
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