Schluss mit dem ewigen Aufschieben
wenig ab wie Anja selbst: Es kommt halt immer
etwas dazwischen, die Kinder mit ihren Ansprüchen, die gesellschaftlichen Verpflichtungen als Frau eines erfolgreichen Anwalts.
Beide haben sich eingerichtet mit der Wahrnehmung, dass sie eine außergewöhnliche Frau sei, leider eben nervlich zur Zeit
etwas labil, aber irgendwann, wenn sie weniger durch die Kinder belastet sein würde, werde sie groß rauskommen. Diese gemeinsam
geteilte Illusion ist ihnen auch den Dauerstreit wert. Lieber nehmen beide die Eheprobleme in Kauf, als an einer grundlegenden
Veränderung zu arbeiten. Eine
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Paarberatung, zu der ihre Freundin ihr immer wieder rät, birgt das Risiko, zum Ausprobieren ihrer Wünsche aufgefordert zu
werden, und davor fürchtet Anja sich. Was, wenn sich zeigen sollte, dass sie doch nicht so schön oder kreativ ist? Wenn sie
abwartet, kann sie sich und anderen eines Tages sagen, dass sie als Model eben schon zu alt gewesen sei.
Helmut fürchtet sich ebenfalls vor der Beschämung durch sein Ich-Ideal. Er sieht sich umstellt von Feinden und erkennt nicht,
dass er selbst sein übelster Gegner ist. Durch sein Festhalten an der kindlichen Konstellation, der belächelte Kleine zu sein,
der nicht ernst genommen wird, schützt er sich vor dem Risiko, bei wirklicher Übernahme von Verantwortung zu scheitern. Als
heimlicher Rebell in der Versicherung mag er sich lieber sehen – haben nicht auch Kafka und Einstein in der Assekuranz beziehungsweise
auf dem Patentamt gearbeitet? Folgerichtig schlägt er die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten aus und provoziert sogar die
Beschämung durch seine Vorgesetzten: Dann ist es wie früher, damit kennt Helmut sich aus. Wollte er wirklich mehr Macht, dann
müsste er seine tatsächliche Leistungsfähigkeit beweisen. Und wenn er einfach nur seine Pflicht tut, dann fürchtet er sich
heimlich davor, nur ein »langweiliger kleiner Angestellter« zu sein.
Beate schützt sich vor der Konfrontation mit ihren unrealistischen Maßstäben auf ihre Weise. Sie hält weiterhin an ihren perfektionistischen
Vorstellungen fest und schiebt alles auf die Umstände. Wenn die anders wären, dann würde sie die Arbeit schlechthin abliefern.
Gelegentliche Kritik an ihrem Aufschieben hat sie zwar auch getroffen, aber sie hat ja immer eine gute Entschuldigung gehabt.
Die Gefahr, die sie in konzentrierter Arbeit an einem Projekt wittert, besteht darin, bei den vielen erforderlichen Einzelschritten
von ihrem Perfektionismus eingeholt und aufgefressen zu werden. Ihre Erfahrungen, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen,
bestätigen ihr ja scheinbar jedes Mal wieder dieses hohe Risiko.
Etwas nicht zu können, also einen Mangel an Fertigkeiten zu haben, ist für viele Menschen, die aufschieben, nicht vereinbar
mit ihrem Ich-Ideal, das Kompetenz in allen Dingen verlangt. Zumal wenn Sie Fertigkeiten mit Fähigkeiten gleichsetzen und
Fähigkeiten mit Persönlichkeit, sind Sie immer dann, wenn Sie etwas (noch) nicht können, in Gefahr, sich als entwertet zu
erleben.
|92| Hoffen auf Kompetenz
Wenn Sie nicht mit Mängeln in Ihren Vorgehensweisen konfrontiert werden wollen, dann müssen Sie Ihre Wahrnehmung von sich
selbst, der Arbeitssituation und Aspekten Ihrer Aufgaben verändern. Eine penible Beobachtung Ihrer einzelnen Schritte könnte
peinlich werden, also gehen Sie wahrscheinlich eher global statt spezifisch an Vorhaben heran.
Beate muss ihr Konzept endlich fertig schreiben! Sie setzt sich nicht damit auseinander, wie das »muss« in einzelne Handlungsschritte
zerlegt werden kann, die dann vielleicht in einen Arbeitsplan für ein paar Tage münden könnten. »Das Konzept« ist gleichfalls
ein überwältigend erlebter Begriff: Es geht nicht um einzelne Seiten, Kapitel, Abschnitte oder Absätze, die handhabbar erscheinen
würden, sondern um etwas, das groß, bedeutungsvoll und kaum machbar erscheint. »Fertigschreiben« krönt diesen Horrortrip in
die Welt der großen Worte: Es ruft Gedanken an ein Endergebnis hervor und gibt keine Orientierung, welche Schritte dazu erforderlich
sind.
Helmut betrachtet wieder einmal missmutig die inzwischen angewachsenen Stapel mit Kundenzuschriften. Die alle soll er bearbeiten,
geht ihm durch den Kopf. Er spürt Unlust, und sobald sich seine Aufmerksamkeit darauf richtet, sucht er nach unmittelbarer
Entlastung. Entweder liest er in der Hauszeitschrift der Versicherung (»Man muss sich über die Interna
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