Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Recht hat: Er hat
selbst Angst, von Rührung überwältigt zu werden, während er spricht, und er spürt, dass er seiner Mutter und den Verwandten
gefallen möchte. Mit immer neuen Anekdoten, die er aneinander reiht, möchte er von allen witzig gefunden werden.
Helmut gehört zu denjenigen, für die es eine unbewusste Versuchungssituation bedeutet, vor anderen Menschen aufzutreten. Er
möchte seiner Mutter seine Liebe zeigen, ahnt aber, dass eine Ansprache vor allen Verwandten dafür nicht der richtige Rahmen
ist. Seine kindlichen Gefühle von Anhänglichkeit melden sich, zusammen mit Dankbarkeit, die er seiner Mutter gegenüber empfindet.
Ihm kommen die Tränen, während er an seinem Text feilt, und er befürchtet, dass ihn die Rührung auch während der Rede überwältigen
könnte. Er möchte aber von den Zuhörern anerkannt und respektiert werden. Dazu passen keine Tränen, findet er. Außerdem kennt
er noch aus der Schulzeit seine Tendenz, sich anzubiedern und als Clown zu geben. Damit will er sich jedoch heutzutage, als
gereifter Mann, schon gar keine Blöße mehr geben.
Sie können auch bei anderen Gefühlen fürchten, dass diese in der Situation öffentlicher Beachtung unkontrollierbar aus Ihnen
herausbrechen. Solche Gefahren können von sexueller Erregung ebenso drohen wie von Wut und Ärger, von Wünschen, sich oder
andere zu erniedrigen oder sich ihnen hinzugeben. Besonders Prüfungen sind Gelegenheiten, an denen sich diese unbewussten
Fantasien entzünden können, und die deshalb häufig aufgeschoben werden. Insbesondere dann, wenn Prüfern der Ruf vorauseilt,
die Kandidaten hart in die Zange zu nehmen, können diese fürchten, sich entweder ängstlich demütigen zu lassen oder aufsässig
dagegen zu halten. Im ersten Fall |86| können die Ängste bis dahin gehen, die Fassung zu verlieren oder dem gefürchteten Blackout zum Opfer zu fallen. Im zweiten
Fall wird befürchtet, zum rasenden Rächer früherer und jetziger Demütigungen zu werden, die eigene Wut nicht mehr steuern
zu können und – per Racheakt des Prüfers – durchzufallen.
Manchmal stellt Anja sich vor, dass sie wirklich den Schritt zu einer Modelkarriere geschafft hätte. Sie versucht, in Fantasien
zu schwelgen, wie sie all diese tollen Kleider vorführt und sich wiegenden Schrittes auf dem Laufsteg präsentiert. Immer wieder
mischt sich in diese Vorstellung ein seltsames Gefühl: Sie sieht dann die gierigen Augen der Betrachter, zumeist Männer, die
sie in Gedanken ausziehen und alle etwas von ihr wollen. An dieser Stelle bricht Anja ihre Vorstellung, die sie jetzt mehr
verwirrt als erfreut, stets ab. Sie denkt an die Zeit, bevor sie Horst traf. Damals war sie auf jeder Party zu finden und
hatte eine Vielzahl von Beziehungen. Manchmal hatte sie Angst, den Halt zu verlieren und abzurutschen in eine Schickeriaszene,
in der jeder Drogen zu nehmen schien, um immer gut drauf zu sein. Sie war damals promiskuitiv und hing ganz schön an der Flasche,
findet Anja heute.
Mit der Erfüllung ihres Wunsches danach, im Scheinwerferlicht zu stehen und von allen begehrt zu werden, verbinden sich für
Anja irritierende Gefühle, zum Beispiel Ängste vor Männern, aber auch die diffuse Bedrohung, wie damals ohne den Halt, den
die Ehe mit Horst ihr gegeben hat, dazustehen und abzurutschen in eine gierige Sucht nach Leben und Erregung. Ihre Furcht,
erneut von unkontrollierbaren Gefühlen überwältigt zu werden, bezieht sich zwar auf die Zukunft, bewirkt jedoch, dass Anja
in der Gegenwart alle Schritte zu ihrer ersehnten Karriere aufschiebt.
Die Angst davor, von Gefühlen überwältigt zu werden, sorgt auch für das Aufschieben von gesundheitlichen Check-ups und Vorsorgeuntersuchungen.
Die rationalen Argumente, warum sie zu solchen präventiven Arztbesuchen gehen sollten, leuchten vielen Menschen durchaus ein.
Bei der Untersuchung könnte allerdings etwas gefunden werden, was weitere, womöglich unangenehme und schmerzhafte Diagnostik
oder gar eine Operation erforderlich macht. Diese Möglichkeit gefährdet das Gleichgewicht, in dem sie sich befinden und bringt
zudem die Drohung mit sich, in einem solchen Fall mit unkontrollierbaren |87| Emotionen überschwemmt zu werden. Und wer sich nicht zutraut, die gefühlsmäßigen Folgen eines Befundes bei einer Vorsorgeuntersuchung
auch bewältigen zu können, schiebt eben das Hingehen auf.
Die Furcht, die Kontrolle über Ihre Gefühle zu
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