Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Alleinsein
Wenn Sie manche Projekte, die Sie aufschieben, erledigen würden, dann müssten Sie vielleicht eine gewisse Portion Einsamkeit
auf sich nehmen. Ein Buch zu schreiben, über neue Lebensziele nachzudenken, aus der gewohnten Alltagsroutine auszubrechen
und einmal allein zu verreisen, das sind Situationen, in denen ein Rückzug von Ihrer vertrauten Umgebung und Ihren Bezugspersonen
erforderlich ist. Möglicherweise schieben Sie solche Vorhaben deswegen auf, weil Ihnen das Alleinsein Angst macht. Einsamkeit
steigert das Risiko, sich nicht mehr ablenken zu können von schmerzlichen, traurigen und belastenden Gefühlen, die im Alltagstrubel
übertönt werden. Aktivität ist nämlich ein guter Schutzwall. Wer 18 Stunden am Tag beschäftigt ist, hat keine Zeit mehr, zu
sich zu kommen. Je weniger Sie jedoch zu sich kommen, desto mehr unbeachtete Sorgen, beiseite geschobene Ärgernisse und übersehene
Traurigkeiten häufen sich an. Um die Begegnung damit zu meiden, müssen Sie unbedingt noch telefonieren, den Fernseher laufen
lassen, sich Gesellschaft ins Haus holen – und die Dinge aufschieben, die nur in einer gewissen Isolation zu erledigen sind.
Ironischerweise schützt das Aufschieben in einer ganz direkten Weise davor, sich total einsam und entleert fühlen zu müssen,
da zu Hause oder im Büro, in der Universität, auf der Arbeit |103| oder sonstwo immer die unerledigte Aufgabe wartet, Ihr ständiger Begleiter.
Viele Menschen sind sich der Angst vor Einsamkeit sehr bewusst und tun alles, um nicht allein zu sein. Lässt es sich nicht
vermeiden, dann haben sie mit Angst und Fluchtimpulsen zu kämpfen.
Beate weiß, dass sie das Alleinsein schlecht erträgt. Sie will sich dem nun aber stellen. Wenn schon, dann aber gleich den
vollen Horror, wie sie ihren Freunden verkündete. Sie hat beschlossen, dass sie eine Art Mönchsklause benötigt, um ungestört
an ihrem Konzept zu arbeiten. Schluss mit dem Internet und seinen Ablenkungen, Schluss auch mit dem ewig bereitliegenden Handy.
Sie stellt ihren Schreibtisch um, sodass sie nicht mehr auf die belebte Straße vor ihrem Haus schaut, sondern an die Wand.
Das Bild, das dort bislang hing, nimmt sie ab. Dann leert sie ihren Schreibtisch. Nur ihre Notizen dürfen noch auf ihm liegen,
ein Stoß leeres Papier und ein Bleistift. Ihren geliebten kleinen Kaktus verbannt sie ebenso wie ihre gesammelten Muscheln,
Urlaubsfotos und die hübschen Glassachen aus Schweden. Nur Kargheit soll sie umgeben, ungestört will sie sich konzentrieren.
Leider stellt sie bald fest, dass sie noch nervöser wird als sonst. Die Angst vor dem Alleinsein weicht allmählich einem unangenehmen
inneren Unruhezustand. Zwar verbietet sie es sich, zu den gewohnten Ablenkungen ihre Zuflucht zu nehmen, und manche sind ja
auch nicht mehr so einfach zu erreichen, aber die weiße Wand vor ihr deprimiert sie und scheint sie zu verhöhnen, so als ob
sie sagte: So leer sieht es in deinem Kopf auch aus!
Beate schüttet das Kind mit dem Bade aus. Zwar ist der Einfall löblich, besonders gefährliche Ablenkungsobjekte aus dem Weg
zu räumen. Allerdings übertreibt sie und landet in einer Situation, die zu reizarm ist, sodass ihr Auge keine Anhaltspunkte
mehr findet und ihr Gehirn zu wenig Anregung erhält. Unter diesen Bedingungen wird das Alleinsein gesteigert zu einer sehr
unangenehmen Situation des Entzugs erforderlicher Sinnesreize, die nicht lange auszuhalten ist.
Die Angst vor dem Alleinsein ist eigentlich eine Angst vor der Begegnung mit Gefühlen, die Sie im Alltag zu sehr vernachlässigen
und vielleicht aktiv vermeiden: Ihre Gesundheit, Partnerprobleme, Zukunftsängste, das Älterwerden, ein nicht ausgetragener
Streit, |104| eine ungeklärte Liebesbeziehung und so weiter. Manchmal zeigt sich diese Angst in Form von Konzentrationsstörungen. Viele
Menschen leiden unter ihnen besonders dann, wenn sie sich an eine einsame Arbeit machen. Zuhause am Schreibtisch, mit dem
Lehrbuch vor sich, schweifen die Gedanken ab. Es wird leer in Ihrem Kopf, und Sie wissen nicht mehr, was Sie gerade gelesen
haben, oder Sie driften ab und kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Mit angenehmen Tagträumen können Sie wenigstens ein
bisschen »halluzinatorische Wunscherfüllung« betreiben, wie Freud es nannte. Wenn Sie hingegen gar nicht wissen, wohin Ihre
Gedanken wandern, dann sind Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unbewusst mit unangenehmeren Dingen
Weitere Kostenlose Bücher