Schluss mit dem ewigen Aufschieben
sozialen Kontext abgestimmt sind. Die eingezeichneten modulatorischen Auswirkungen verschiedener Affekte
auf die Aktivierung der Systeme zeigen, dass die Überwindung des Antagonismus der Systeme durch Affektwechsel erreicht werden
kann (›emotionale Dialektik‹): Das geschieht z. B. beim Selbstwachstum, wenn ein schmerzhaftes Erlebnis nicht verdrängt wird,
sondern zunächst als Einzelerlebnis (›Objekt‹) wahrgenommen wird, was Schmerztoleranz (›Wahrhaftigkeit‹ gegenüber schmerzlichen
Erfahrungen) voraussetzt (A-), und später in das Selbst (Teil des Extensionsgedächtnisses) integriert wird, was durch Schmerzbewältigung
[A(–)], z. B. durch eine verständnis- und liebevolle Bezugsperson (›Liebe‹) gefördert wird.« (Kuhl, 2005, S. 3)
Kuhl sieht zwei wesentliche Aspekte, die durch die Interaktion dieser Systeme geregelt werden: Zielerreichung und Selbstwachstum.
Um intentionale Ziele zu erreichen, muss das Intentionsgedächtnis mit der Verhaltenssteuerung verkoppelt werden. Gelingt es,
erreichen wir das, was wir uns vorgenommen haben. Misslingt es, starren wir unentwegt auf unsere besten Absichten, haben aber
subjektiv das Gefühl, uns nicht aufraffen zu können, und haben deutlich das Gefühl, dass irgendetwas Fremdes uns hindert das
zu tun, was wir tun wollen. Selbstwachstum erfordert es, schmerzliche Erfahrungen, beispielsweise des Scheiterns oder des
Aufschiebens, nicht zu verdrängen, sondern bewusst wahrzunehmen und in das Selbst zu integrieren. Gelingt dies nicht, setzt
eine schleichende Entfremdung ein, in der unser Selbst und unsere Erfahrungen getrennt gehalten werden.
|128| Aufschieben und Selbststeuerung
Vermittelt werden diese Interaktionen durch Gefühle. Intuitiv zu handeln, also beispielsweise ohne große Mühe die morgendliche
Joggingtour zu starten, löst positive Gefühle (Freude) aus. Die Hemmung von positiven Gefühlen (es geht nicht wie von selbst)
aktiviert das Intentionsgedächtnis (vielleicht erinnern Sie sich beim Aufstehen daran, dass Sie doch eigentlich morgens joggen
wollen, sehen aber, dass es regnet, und sind entmutigt). Die Absicht können Sie jetzt leicht aufschieben. Wenn Sie sie dennoch
umsetzen wollen, brauchen Sie ein zusätzliches Plus an positiven Emotionen. Das kann von außen kommen (Ihr Partner dreht sich
im warmen Bett noch einmal um und murmelt: »Du bist aber charakterstark, dass du trotz des Regens laufen gehst!«), oder Sie
motivieren sich selbst, indem Sie daran denken, wie stolz Sie sich fühlen werden, wenn Sie nach dem Lauf unter der heißen
Dusche stehen. Kuhl nennt dies »Willensbahnung« – Intentionen werden mit der Handlungssteuerung durch bewusste Willensakte
verknüpft. Positive Gefühle bahnen dem Willen seinen Weg – man motiviert sich selbst.
Möglicherweise hatten Sie in der letzten Zeit jedoch beim Joggen häufig eine Muskelverhärtung in der linken Wade. Auch an
diesem Morgen konzentrieren Sie sich auf den Muskel und fragen sich ängstlich: »Ist es wirklich eine gute Idee, ihn jetzt
zu strapazieren?« Das negative Gefühl hemmt in diesem Moment Ihren Zugang zu sich selbst, zu Ihrer Lust, sich zu bewegen.
Es richtet Sie stattdessen völlig auf ihre Wade aus. Angst und Schmerz aktivieren das Objekterkennungssystem. Was Sie jetzt
brauchen, ist Beruhigung: Sie müssen Ihre Angst mit Ihren Erfahrungen und Ihrer Planung für die nächsten Monate in Einklang
bringen, das heißt, Sie müssen sie in die weitere Perspektive Ihres Selbst integrieren. Das akute negative Gefühl kann dadurch
abklingen, indem Sie sich daran erinnern, dass solche Beschwerden in der Regel nach einiger Zeit des Laufens nachlassen, dass
Sie Ihren Muskel vorher aufwärmen und massieren können, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Selbst, wenn Sie für ein
paar Wochen nicht laufen können, könnten Sie beispielsweise immer noch Tennis spielen, allerdings ohne heftige Sprints. Sie
beruhigen sich also selbst. Trost könnte aber |129| auch von außen kommen, wenn zum Beispiel Ihre Partnerin sagt: »Probiere es doch mal, du kannst ja immer noch aufhören, wenn
es zu sehr weh tut!«
Entscheidend, um handlungsfähig zu bleiben, ist also die Wiederherstellung positiver Gefühle im einen Fall und die Hemmung
negativer Gefühle im anderen. Beides erfordert bewusste Selbststeuerung. Selbstmotivierung und Selbstberuhigung sind jedoch
letztlich nur dann möglich, wenn unsere Ziele mit unseren Bedürfnissen
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