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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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wiederum sollte das Ding in Sicherheit bringen, muss aber feststellen, dass ihm
Woll zuvorgekommen ist. Eine feine Theorie, trotzdem missfiel sie mir.
    Ich würde Woll fragen, wie sie ihm gefiel. Falls er zu Hause
war. Und falls nicht? Konnte ich seine Nachbarn fragen. Irgendjemand musste
doch wissen, wo der Kerl steckte.
    Endlich hatte ich den höchsten Punkt erreicht. Den Hohlen
Kästenbaum, von dem das Kümmelbachtal nach Süden und der Schwabenweg nach
Südwesten abzweigten. Ich stieg vom Rad, trank wie drei Tage zuvor einige
Schluck Wasser am Brunnen und setzte mich anschließend auf eine trockene Stelle
der Bank. Es war angenehm still hier oben. An den Hängen nur zwei Farben, das
frische Weiß des Schnees und das Graubraun der Stämme und Äste. Ein Vogel
kreiste um kahle Wipfel. Der geteerte Weg, der nach Neckargemünd führte, war
fast schneefrei, dafür hatten Forstfahrzeuge und Plusgrade gesorgt. Wenn die
Nebenwege ähnlich aussahen, würde ich den Emmertsgrund in einer Viertelstunde
erreicht haben.
    Ich schloss die Augen. Die Spiegelfechterei mit Sorgwitz
hatte mich ermüdet. Gut, dass es von nun an nur noch bergab ging. Ich hörte,
wie sich jemand näherte. Jemand, der kurze Schritte machte und die Füße nicht
recht hob. Dazu ein Schleifen und Scharren, wie wenn ein Metallgegenstand über
die Erde gezogen wird. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte mir
vorzustellen, wer da auf mich zukam.
    Dann verklangen beide Geräusche. Der Jemand stand nun ganz
nahe bei meiner Bank.
    »Spielst du toter Mann?«, fragte er.
    Ich öffnete die Augen und wandte den Kopf. Der Jemand war ein
kleines Mädchen mit rosa Mütze und buntem Schal. Es zog einen Schlitten hinter
sich her.
    »Nö«, sagte ich. »Nur ein bisschen ausruhen.«
    »Ach so.«
    »Und du? Bist du Schlitten gefahren?«
    »Geht nicht. Zu wenig Schnee.«
    »Verstehe.«
    »Aber da oben«, sagte sie und zeigte mit dem Finger zum
Auerhahnenkopf hoch, »da oben spielt einer toter Mann. Und zwar richtig.«
    »Was heißt das, richtig?«
    »Na, so richtig im Schnee, richtig tot.« Sie wandte sich zum
Gehen. »Anders als du.«
    Ich sah ihr nach, wie sie den Serpentinenweg Richtung
Schlierbach einschlug. Die Kleine hatte keine Ahnung von den
Tote-Mann-Qualitäten eines Max Koller. Da hätte sie mich mal in Schulzeiten
erleben sollen. Eine Legende war ich!
    Bloß dass es mir nicht eingefallen wäre, im Schnee toter Mann
zu spielen. Seufzend bestieg ich mein Rad und erklomm den Läuterungsberg.
    Das Mädchen hatte recht gehabt. Der Mann nahm seine Rolle
ernster als ich. Ich brauchte eine Weile, um ihn zu finden. Die kleinen
Fußabdrücke und die Spur des Schlittens führten mich hügelan, aber vom Weg aus
war die Stelle schlecht einzusehen. Zweimal fuhr ich über die Kuppe des
Auerhahnenkopfes, bis ich zu den Füßen eines halb verfallenen Hochsitzes etwas
Massiges erspähte, das weder Holz noch Stein war. Ich stellte mein Rad ab und
stiefelte durch den Schnee zu dem dunklen Ding.
    Da lag der Mann, bedeckt von einer dünnen Schneeschicht, und
er bot keinen schönen Anblick. Ich erkannte ihn kaum wieder.
    Aber er war es: der Klarinettist.Und
nun hatte ich die Erklärung, warum er den Hörer nie abgehoben, warum er
überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte. Woll war nicht der
Mörder. Er war das dritte Opfer geworden.
    Ich starrte auf die Leiche hinunter und schluckte. Mich
fröstelte. Der Körper war nicht blau, nicht weiß, ihm fehlte alle Farbe.
Blutleere Lider hingen über kalten Augäpfeln, die steifen Lippen waren leicht
geöffnet, die Haare standen strohig um den Kopf. Woll, beziehungsweise das, was
einmal Woll gewesen war, lag zusammengekauert auf dem gefrorenen Boden, so, wie
wir alle uns krümmen, wenn wir im Bett vor Kälte nicht einschlafen können.
    Allerdings liegen wir normalerweise nicht mit gefesselten
Händen im Bett.
    Wolls Arme waren roh auf dem Rücken zusammengeschnürt worden.
Vorsichtig entfernte ich den Schnee von seinem Körper. Er hatte bloß eine Jacke
über seinem Pullover, keine Handschuhe, keinen Schal, keine Mütze. Auch seine
Füße waren gefesselt. Ich blickte nach oben. Es sah aus, als sei Woll vom
Hochsitz heruntergefallen. Satte vier Meter. War das denkbar? Die modrigen
Sprossen wirkten brüchig, aber einem festen Faustschlag hielten sie stand. Oben
auf dem Hochsitz hatte irgendwann ein Sturm die Hälfte der Überdachung
weggetragen. Einer der vier Stützpfähle

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