Schlussakt
gelegen. Und war nie
zufrieden gewesen. Offenbar handelte es sich bei dem, was ich und der Rest der
Welt unter Sensibilität verstanden, um verschiedene Dinge. Meine private
Sensibilität ließ mich zum Beispiel fragen, warum Marc Covet so dünnhäutig
reagierte, wenn es um seinen Kumpel Bernd ging. Warum fasste er ihn permanent
mit Samthandschuhen an, nahm ihn in Schutz, verteidigte ihn? Weiter fragte ich
mich, seit wann Nagel und die Nierzwa tatsächlich nicht mehr zusammen waren.
Wenn ihre Trennung einige Zeit zurücklag und Nagel an der Garderobiere vor
allem ihre körperlichen Vorzüge geschätzt hatte, war es erstaunlich, dass ihn
die Erinnerung an die Ex aus einer Premiere hinaus in die Kälte trieb. Und dann
schlich sich noch eine Frage in meine Überlegungen: die Frage nach dem
Verhältnis von Marc und Annette. Nicht mein Fall, hatte er gesagt. Stimmte das?
Mein Freund und die Frauen, das war ein besonderes Kapitel. Die Nierzwa und
ihre Männer ein anderes. Hoffentlich standen sie nicht im gleichen Buch.
»Ich werde mich bemühen«, sagte ich. »Vielleicht ist das ein
Vorurteil von mir, dass ich glaube, jeder, der in unserer Gesellschaft eine
bestimmte Position erreicht hat, müsste ein richtig dickes Fell haben, richtig tough sein.«
»Als Geschäftsführer des Städtischen Orchesters stehst du
nicht gerade weit oben.«
»Höher als ein Privatflic.«
»Jetzt drückst du aber
auf die Tränendrüse, Max.«
»Ich bin ja auch nicht tough .«
Covet seufzte. Wir hatten schon erfreulichere Gespräche
geführt. »Was anderes«, sagte er. »Der Schauspieler, mit dem die Nierzwa liiert
war, heißt Peter Michael Gerber und wohnt in München. Ob er dort ein festes
Engagement hat oder aus privaten Gründen hingezogen ist, konnte ich nicht
herausfinden.«
»Ein bisschen Arbeit darfst du mir gerne überlassen.
Schließlich bezahlt Frau von Wonnegut dafür.«
Er seufzte erneut. »Elke von Wonnegut … Manchmal könnte man
meinen, ganz Heidelberg gehört in die Klapse.«
»Bring diesen Satz in deinem Revolverblatt unter, dann
stecken sie dich als Ersten rein. Alter Miesmacher.«
»Ich Miesmacher, du Ermittler. Was wirst du jetzt
unternehmen?«
»Oh, was ganz Schickes. Ich gehe einbrechen.«
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
10
Gegen neun stand ich vor Annette Nierzwas Haus.
Dieselwolken hingen schwer in der Luft, die mir aber wenigstens bildlich
gesprochen rein zu sein schien. Kein Behördenfahrzeug, das auf dem Radweg
parkte, kein Beamtengesicht weit und breit. Trotzdem stellte ich mein Rad 50
Meter entfernt vor dem hell erleuchteten Schaufenster eines
Bestattungsunternehmens ab und ging zu Fuß zurück. Der Wind hatte nachgelassen,
dafür waren dicke Wolken aufgezogen. Zweimal drückte ich auf den Klingelknopf
neben Annettes Namen, und als sich nichts tat, schloss ich die Tür auf und trat
ins Haus. Dunkel gähnte ein muffiges Treppenhaus, ein Kinderwagen stand schräg
im Weg. Ohne Licht zu machen, erklomm ich die Stufen. In jeder Etage führte
linker Hand ein Flur zu mehreren Wohnungstüren. Hinter den meisten hörte man
Geräusche: Musik, Unterhaltungen, Kindergeplärre, Fernsehdialoge. Im zweiten
Stock roch es nach Essen, und das nicht einmal schlecht. Bei Familie Neukum
führte der Vater das Wort, es ging um die Katze und das verdammte Wetter, das
musste doch mal gesagt werden.
Hinter Annette Nierzwas Wohnungstür im dritten Stock war es
still. Totenstill. Ich lauschte, hielt den Atem an, entledigte mich eines
Handschuhs und klopfte vorsichtig gegen die Tür. Keine Reaktion. Ich zog den
Handschuh wieder an. Auf Augenhöhe war das Siegel der Landespolizei angebracht.
»Tut mir leid«, murmelte ich und teilte es mit der Spitze des
Wohnungsschlüssels in zwei Hälften. Das Schloss war geölt, die Tür öffnete sich
geräuschlos, der Teppichboden schluckte das Geräusch meiner Schritte. Ich stand
in der Diele der Toten und drückte die Eingangstür sanft mit dem Rücken zu.
Alles blieb ruhig, so ruhig, wie es in einer leeren Wohnung
zu sein hatte. Ich wartete. Nahm den schwachen süßlichen Geruch wahr, der in
der Luft hing, war ansonsten ganz Ohr. Nach einer Weile tastete ich mich vor,
Zentimeter für Zentimeter durch die Finsternis. Ich bekam eine Türklinke zu fassen,
öffnete und trat in Annette Nierzwas Wohnzimmer. Durch ein breites Fenster fiel
Licht in die Wohnung, das milchig-gelbe Licht von
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