Schlussakt
Straßenlaternen, die unten in
der Mittermaierstraße ihre nächtliche Arbeit verrichteten.
Vielleicht war meine Vorsicht übertrieben, aber ich ließ
zunächst sämtliche Rollläden der Wohnung herunter, bevor ich das
Wohnzimmerlicht einschaltete. Ich hatte mich bereits so sehr an die Dunkelheit
gewöhnt, dass die Helligkeit in den Augen schmerzte.
Blinzelnd sah ich mich um. Annette Nierzwa hatte Vögel
geliebt. Die Wände waren voller Aquarelle, Zeichnungen, Fotos von Federvieh.
Schade nur, dass diese Liebe nicht mit gutem Geschmack einherging. Annettes
Vogelpark strotzte vor Hässlichkeit. Da gab es kulleräugige Disney-Enten, Schwäne
unter Sternen, Eisvögel in Blau metallic. Über dem Sofa hing ein
pastellfarbenes Kitschbild von Spatzenkindern mit aufgesperrten Schnäbeln,
neben der Tür wachte ein Reiher im Halbrelief. Eine Voliere, stumm und tot wie
Annette Nierzwa selbst.
In den übrigen Zimmern hatte sie auf ihre gefiederten Freunde
verzichtet, nicht aber auf putzmuntere Aufgeräumtheit. Auf jedem Tisch lagen
Deckchen, auf gepolsterten Stühlen kleine Extrakissen. Der Teppichboden
strahlte sattgrün, an der Wand klebte eine Tapete mit Blumenmuster, das
Wohnzimmersofa nannte einen braunen Cordbezug sein eigen. Alles war plüschig,
üppig, flauschig, wirkte übertrieben, die Farben bissen sich. Annette Nierzwa
hatte einfach zu viel des Guten getan. Was für eine Mühe, all diesen Nippes
abzustauben! Und Staub war in dieser Wohnung verpönt.
Vielleicht hatte Nagel das an seiner Freundin gefallen: Sie
hielt auf Ordnung. Ihr Zuhause war sauber, der eigene Körper gepflegt. Da
spielte es keine Rolle, dass sie einen schlechten Geschmack besaß. Mit schönen
Dingen hatte Nagel ja beruflich genug zu tun.
Genug herumpsychologisiert. An die Arbeit!
Ich begann im Wohnzimmer. Untersuchte die Regale, die Fächer
der großen Schrankwand, den Sekretär neben dem Durchgang zur Küche. Fotos
fielen mir in die Hände: Urlaub am Meer, in den Bergen, eine Feier mit
Bekannten, Tennisfreunde. Nagel blickte mich an, auch der feiste
Barth-Hufelang. Von Woll kein einziges Bild. Auch von Marc Covet nicht. Dann
wieder der Geschäftsführer, alleine und verloren vor einem ungeheuren Geröllhaufen,
unentschlossen in die Kamera grinsend. Nichtssagende Motive; wenn jemals ein
interessantes dabei gewesen war, ruhte es jetzt in einer Schreibtischschublade
der Polizeidirektion Heidelberg.
In einem offenen Fach der Schrankwand stand der Fernseher,
die Fernbedienung lag daneben auf alten Zeitschriften. Ansonsten einige Bücher,
Stofftiere und Vasen, etwas Grünzeug. Ich blätterte durch, verschob, hob an.
Nichts, was mich weiterbrachte. Der Sekretär quoll über vor Sachen, die nicht
in einen Sekretär gehören. Meiner Meinung nach. Ich fand Bilder und Poster,
Süßigkeiten, alte Modezeitschriften und jede Menge dieser albernen
Sammelfiguren aus Plastik, die in 50 Jahren auf Flohmärkten für teures Geld
verscherbelt werden oder auch nicht. Eine große Schublade enthielt eine
komplette Hausapotheke: Pflaster, Wundspray, Aspirin, Schmerz- und
Beruhigungsmittel, Kondome und Schächtelchen, Tübchen, Döschen, Gläschen.
Rätselhafte Medikamente für rätselhafte Krankheiten. War Annette Nierzwa krank
gewesen? Oder pflegte sie nur eine Handvoll persönlicher Leiden, um unter
Gleichgesinnten davon berichten zu können?
Eine weitere Schublade war leer. Gähnend leer. Das fiel umso
mehr auf, als alle anderen schier aus den Nähten platzten. Vermutlich hatten
sich hier ihre privaten Unterlagen befunden, die nun behördlich ausgewertet
wurden: Kontoauszüge, Briefe, vielleicht ein Tagebuch. Ich sah den Rottweiler
vor mir, wie er durch seine Lesebrille glotzte und sich in das Leben der Toten
hineinwühlte.
›Na und?‹, hörte ich jemanden sagen. ›Machst du etwas
anderes, alter Schnüffler?‹
Es war nicht die Stimme des Rottweilers gewesen, die das
fragte, sondern meine eigene. Achselzuckend gab ich mir recht. Ich war keinen
Deut besser als der beamtete Kläffer.
Nur dass ich mich mit den Brosamen der Ermittlung im Fall
Annette Nierzwa begnügen musste. Sie hatten mir nicht viel übrig gelassen, die
Kommissare. Die entscheidenden Ordner waren fort; der Rest summierte sich zwar
zu einer Art Bild der toten Frau, trug zur Aufklärung des Mordes jedoch nichts
bei.
Zusehends entmutigt blätterte ich einen Stapel Papiere durch,
der im offenen Fach des Sekretärs lag. Einige Rechnungen; ein
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