Schlussakt
Rundbrief der
Hausverwaltung, die Mülltrennung betreffend; Broschüren von zwei
Fitnessstudios; ein Stern -Artikel über dubiose Kunstgegenstände;
Reiseprospekte und jede Menge Schmierpapier. Daneben einige Stifte und Kulis,
säuberlich aufgereiht.
Ich wechselte zur Küche, schaute in Schränke und Schubladen.
Der übliche Haushaltskram, alles sauber und geputzt. Selbst das Innere der
Spülmaschine glänzte. Nein, hier gab es nichts zu holen. In der Diele fiel mir
eine leere Wandfläche auf, ein großes Nichts über der Telefonanlage. Ein
verwaister Nagel steckte noch in der Wand. Wäre ich Annette Nierzwa gewesen, so
überlegte ich, hätte ich hier eine Magnettafel oder eine Pinnwand angebracht:
um meine Garderobendienste einzutragen, für Telefonnummern, Adressen, Notizen.
Was es auch immer gewesen war, die Polizisten hatten es eingesackt. Übrig
gelassen hatten sie mir bloß einen würfelförmigen Notizblock, dessen oberstes
Blatt mit jener Ornamentik bedeckt war, wie sie entsteht, wenn man während des
Telefonierens vor sich hinkritzelt. Außerdem hatte die Verstorbene dort den
Namen ihres Liebsten bzw. Ex-Liebsten notiert – fürchtete sie, ihn zu
vergessen? – und einige der Großbuchstaben mit Punkten markiert. Dahinter zwei
Nullen und ein dickes Ausrufezeichen. Ach ja, ein Strichmännchen gab es auch.
Nachdenklich drehte ich den Würfel um, blätterte ihn durch, hielt das oberste
und das unterste Blatt gegen das Licht – nichts. Ich nahm den Hörer von der
Basisstation und tippte mit dem behandschuhten Zeigefinger erst die
Verbindungs-, dann die Wiederholtaste. Eine sechsstellige Nummer wurde gewählt,
es läutete viermal, bis das Band eines Anrufbeantworters ansprang. Zu meiner
Überraschung meldete sich eine bekannte Stimme: der Klarinettist. Mein alter
Freund Woll. Der angeblich keinen Kontakt mehr zu seiner Ex hatte. Na, dem
würde ich was erzählen.
Die Diele gab ansonsten nicht viel her, ein Schrank hing
voller Mäntel und Jacken, auch Schuhe fanden sich reichlich. Weitere
Kleiderschränke standen im Schlafzimmer, das sich Annette Nierzwa auf ihre
Weise gemütlich eingerichtet hatte. Mit raschelnder Satindecke auf dem breiten
Einzelbett und einem kleinen Zoo von Stofftieren. Der süßliche Geruch, dem man
überall in der Wohnung begegnete, war hier am stärksten. Neben dem Bett eine
kleine Kommode und die oberste Schublade darin: leer. Ärgerlich schob ich sie
zu. Das machte alles keinen Sinn. Die Leiche war längst gefleddert, was wollte
ich noch? Ein paar Zeitschriften und Bücher hatten sie mir dagelassen, die
Herren von der Spurensicherung, damit ich sehen konnte, an was Annette Nierzwa
literarisch Gefallen gefunden hatte. Ein Arztroman, eine Taigaschnulze, das
passte zu ihrem Vogelbildergeschmack, aber es half mir nicht weiter. Das dritte
Buch verschaffte mir wenigstens ein bisschen Erheiterung; es war ein zerlesener
Esoterikschinken, der Menschen in Typen einteilte und mit Planeten in
Verbindung brachte. Die Nierzwa hatte ihn mit zahlreichen Anmerkungen versehen
und ganz hinten die Namen von Bekannten in eine große Typentabelle eingetragen.
Bernd Nagel entsprach Typ 8, laut Tabelle war er sensibel, melancholisch,
entscheidungsschwach, kreativ und migränegefährdet. Außerdem Vegetarier. Zu den
Namen, die ich kannte, gehörten Peter Michael, der ausgewanderte Schauspieler,
Gregor, Annettes Ex-Gatte, und Enoch, der dicke Dirigent. Bevor ich in deren
planetarisches Wesen Einblick nehmen konnte, geschah etwas völlig Unerwartetes.
Es läutete an der Tür.
Unwillkürlich blickte ich auf meine Armbanduhr. Wer wollte um
diese Uhrzeit …? Aber das war nicht die dringendste Frage. Viel dringender
waren folgende Fragen: ob der späte Besucher unten vorm Haus oder bereits im Flur
stand. Ob man von außen sah, dass Licht in der Wohnung brannte. Und ob einer
von Annette Nierzwas Schlafzimmerschränken mir genug Platz zum Verstecken
bieten würde, falls es darauf ankam.
Es kam darauf an.
Als ich hörte, wie sich an der Eingangstür ein Schlüssel im
Schloss drehte, legte ich das Buch rasch auf den Stapel zurück und hastete zu
einem der Schränke. Der Teppichboden schluckte das Geräusch meiner Schritte.
»Annette?«, rief jemand. Die Stimme eines Mannes. Eines
jungen Mannes. Wunderte er sich über die hell erleuchtete Wohnung? Wurde er
misstrauisch? Er fing an zu pfeifen. Nach Argwohn klang das nicht. Pfeifend
öffnete er Türen, pfeifend
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