Schlussakt
kam er ins Schlafzimmer. Auch dort raubte ihm
niemand seine Unbekümmertheit, denn als er das Zimmer betrat, steckte ich
längst zwischen den süßlich parfümierten Kleidern einer toten Frau und übte
mich in Bewegungslosigkeit.
Trotz meines überstürzten Rückzugs hatte ich mein Versteck
günstig gewählt. An der Vorderseite des Schranks waren schräggestellte Latten
angebracht, die nicht nur für Luftaustausch sorgten, sondern mir auch
eingeschränkte Sicht auf die Vorgänge draußen gewährten. Was ich sah? Einen
Kerl von vielleicht 16, 17 Jahren, der sich in Annette Nierzwas Schlafzimmer
bewegte, als sei er hier zu Hause. Glattes Blondhaar, eng stehende Augen, ein
armseliges Bärtchen auf der Oberlippe und im Ohr ein goldener Knopf. Wie die
Steifftiere auf dem Bett. Im Gehen streifte er seine flachen Schuhe ab und
kickte sie in die Ecke. Nahm sich pfeifend eine der Illustrierten von der
Kommode, warf sie aufs Bett.
Dann zog er sich aus.
Und zwar komplett: Pullover, Hemd, Unterhemd, Hose. Die
Socken? Weg damit. Die Unterhose? Überflüssig. Nicht einmal die Armbanduhr
blieb an ihrem Platz. Das gesamte Kleiderbündel landete unter Annettes Bett.
Nackt und pfeifend stand der nächtliche Besucher da. Das Einzige, was er noch
trug, waren sein Ohrschmuck und zwei dünne Halskettchen; sonst war er nackt, so
nackt wie Adam am Tag eins des Paradieses. Genau genommen war er sogar noch ein
wenig nackter, denn an den Stellen, an denen auch 17-Jährigen schon Haare
wachsen, sah man nichts, nicht den Hauch eines Härchens. Alles wegrasiert,
weggeätzt, und nur der lächerliche Flaum auf der Oberlippe hatte dem
Schönheitswahn widerstanden. Wobei man über die Schönheit des Resultats
geteilter Meinung sein konnte.
Wie um meine Zweifel zu bestätigen, kratzte sich der
angehende Jungmann an den enthaarten Stellen, prüfte sie kritisch, um zuletzt
ins Bett zu hüpfen und sich der Illustrierten zu widmen. Das nahm ihn derart in
Anspruch, dass er irgendwann sogar mit dem Pfeifen aufhörte. Am Ende wollte der
Kerl noch die ganze Nacht im Bett der Verstorbenen verbringen!
Vielleicht war es diese erschreckende Vorstellung, die mich
zu einer unwillkürlichen Bewegung veranlasste. Wie auch immer, einer meiner
Muskeln zuckte, der Schrankboden knarrte, der Jüngling fuhr zusammen. Mit
offenem Mund starrte er in meine Richtung. So schnell würde er ihn nicht wieder
schließen. Ich stieß die Schranktür auf, kletterte heraus und stellte mich
breitbeinig zwischen Bett und Schlafzimmertür. Dabei grinste ich den Knaben an.
Er war schließlich nur eine halbe Portion. Außerdem ebenso
Eindringling wie ich, Schlüssel hin oder her. Waffen- und haarlos, wie er
dalag, fühlte ich mich ihm turmhoch überlegen.
»Steht was Interessantes drin?«, fragte ich und zeigte auf
seine Lektüre.
Er hatte sich im Bett aufgerichtet. Starrte mich heillos
entsetzt an. Wie in Zeitlupe fuhr er eine Hand aus, um nach einem Zipfel der
Bettdecke zu greifen und sie um seine Hüften zu legen. Sie zitterte, die Hand.
Ich wartete. Endlich schloss er seinen Mund und schluckte
kräftig.
»Wer bist du?«, fragte er. Deutsch mit Akzent, irgendwas
Slawisches.
»Max«, antwortete ich. »Du brauchst keine Angst zu haben.
Unterhalten wir uns ein bisschen?«
Gedankenverloren nickte er. Dann schoss sein Oberkörper nach
vorne. Unter Preisgabe seines provisorischen Lendenschurzes langte er unter das
Bett und zog seine Hose hervor. Ich packte ihn am Arm und schleuderte ihn
zurück. Der Hose des Jungen entnahm ich ein Schweizer Taschenmesser. Das Imitat
eines Schweizer Taschenmessers, um exakt zu sein.
»Du brauchst hier nicht
den Helden zu spielen«, sagte ich. »Ich tu dir nichts. Hier, nimm und zieh dich
an.« Ich schmiss das Messer neben ihn auf die Bettdecke.
Er warf mir einen finsteren Blick zu und schwieg.
»Annette kommt heute nicht mehr.«
»Kommt nicht?«
»Nein. Los, zieh dich an. Ich werde noch ganz kirre, wenn ich
mich mit einem Nackten unterhalten muss.«
Langsam löste sich seine Starre. Er stand auf, holte seine
Kleider unterm Bett hervor und zog sich langsam an.
»Freund von Annette?«, wollte er wissen.
»Nein, ich habe sie nicht gekannt. Du hast keine Ahnung, was
passiert ist, stimmts? Annette Nierzwa wurde vorgestern Nacht ermordet.«
Er hielt im Anziehen inne und blickte mich verständnislos an.
»Sie ist tot. Jemand hat sie umgebracht.«
»Tot?«, flüsterte er, ein Bein in der Hose, das
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