Schlussakt
das schwor
ich mir.
Nachdem ich zum dritten Mal am selben Bühnenrequisit, einem
Schwan mit gebrochenem Hals, vorbeigekommen war, kapitulierte ich. Zwei Männer,
die eine Harfe durch die niedrigen Gänge rollten, wiesen mir den Weg. Getrieben
von dem absurden Wunsch, mich bei Bernd Nagel über Woll zu beschweren,
durcheilte ich das Foyer und gelangte über die Wendeltreppe in den benachbarten
Verwaltungstrakt.
Doch die einzige Person, die ich traf, war Barth-Hufelangs
spitznasige Sekretärin. Vorwurfsvoll sah sie mich über ihre Brille hinweg an.
Um was für einen Vorwurf es sich handeln könnte, erriet ich nicht. Vielleicht
blickte sie ja immer so.
»Ist Herr Nagel noch im Haus?«, fragte ich.
»Er hat sich schon vor einer Weile verabschiedet.« Sie
reichte mir einen verschlossenen Briefumschlag. »Vorher hat er mir das hier
gegeben. Für Sie.«
»Danke.«
Im Gehen riss ich den Umschlag auf. Er enthielt einen
Schlüssel und einen handgeschriebenen Zettel: »Von mir haben Sie ihn nicht.
B.N.«
Sieh an, sieh an, Nagel vertraute mir doch ein wenig.
Schlagartig besserte sich meine Laune. Sie besserte sich so sehr, dass ich auf
dem Weg nach Bergheim die nasskalte Luft nicht spürte. Es gab wieder etwas zu
tun.
Unter grauem Himmel erreichte ich eine der grausten Straßen
der Stadt. Wer einen Reiseführer über Heidelberg schreibt, darf die
Mittermaierstraße nicht übergehen. Sie ist die Kehrseite der touristischen
Medaille, sozusagen die Rückseite des Schlosses: ruinöser als jede Ruine, aber
ein Teil der Stadt. Und was für einer! Asphaltpiste à la Hockenheimring, Wanne
aus Stein, Teilchenbeschleuniger für den motorisierten Mitbürger auf dem Weg
vom Bahnhof zum Neckar. Zweiräder werden hart an die Wand gedrängt, auf einem
Witz von Fahrradweg, Fußgänger haben kein Existenzrecht. Die Mittermaierstraße
ist eine Bankrotterklärung für jeden Stadtplaner.
Trotzdem wohnen hier Menschen. Formel-1-Fans vielleicht, die
ohne den Geruch von verbranntem Gummi nicht leben können. Discjockeys, die auf
die tägliche Dosis Straßenlärm angewiesen sind wie Süchtige auf Methadon. Oder
Leute, die sich eine andere Wohnlage nicht leisten können: Ausländer,
Arbeitslose. Menschen wie Annette Nierzwa.
Den Schlüssel zu ihrer Wohnung in der Tasche, näherte ich
mich dem Haus. Bevor sich der Firnis der Abgase darüber gelegt hatte, musste es
ein ansehnliches Gebäude gewesen sein. Jetzt wirkte es krank, kariös,
heruntergekommen. Direkt davor, auf dem schmalen Gehsteig, parkten zwei Fahrzeuge
mit Karlsruher Kennzeichen. Eine behördliche Ausnahmegenehmigung hinter der
Frontscheibe hielt Strafzettel wegen Falschparkens fern. Man war also noch
zugange in der Wohnung der Verstorbenen.
An der seit Jahren nicht mehr gestrichenen Eingangstür hielt
ich an. Zwei Reihen von Namensschildern, teilweise gekritzelt, kaum leserlich,
verblasst. Namen, wie sie mir noch nie begegnet waren: Neukum. Sluc.
Payataasinghwe. Ko. Aber bis vor zwei Tagen hatte ich auch keinen gekannt, der
Nierzwa hieß. Und A. Nierzwa stand in geschwungener Schreibschrift
zwischen all den anderen rätselhaften Namen.
Unauffällig steckte ich den Schlüssel, den ich von Nagel
erhalten hatte, in das Türschloss. Er passte. Ich würde wiederkommen, sobald
die Luft rein war. Zufrieden schwang ich mich auf mein Rad und fuhr nach Hause.
Während ich mir einen Rest Nudeln vom Samstag aufwärmte, nahm
ich mir noch einmal die Neckar-Nachrichten vor. In Ermangelung konkreter
Informationen zum Ermittlungsstand hatten sich die Reporter auf die Biographien
der Beteiligten konzentriert. Annette Nierzwa, hieß es dort, habe ihre
bescheidene Wohnung in Bahnhofsnähe nach der Trennung von Woll bezogen. Dass
sie sich keine größere, keine besser gelegene hatte leisten können, verschwieg
der Schreiber gnädig, doch es lag auf der Hand. Vorher hatte sie mit ihrem Mann
zusammen oben im Emmertsgrund gewohnt.
Ich drehte die Herdplatte ab. Über meinen Freund Woll gab es
nur dürre Informationen: welches Instrument er spielte, wie lange er dem
Orchester angehörte, wann er Annette geheiratet hatte. Ein rechtschaffenes
Mitglied der großen Musikerfamilie, so klang es. Von dem, was er über die
Ermordete dachte, kein Wort.
Bevor ich die Zeitung weglegte, schnitt ich Nagels Konterfei
aus einem Foto aus, das ihn zusammen mit dem GMD und dem Intendanten zeigte. Er
war nur im Profil zu sehen, aber für meine Zwecke würde es
Weitere Kostenlose Bücher