Schlussblende
geschlichen ist, und zwar zu der Zeit, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet wurde. Wir haben seine Fingerabdrücke am Sprossenfenster gefunden. Und nun ist er untergetaucht. Ich kann verstehen, daß Sie sich vor ihn stellen wollen. Ich würde das vermutlich auch tun, wenn einer meiner Officer unter Verdacht stünde. Aber Sie müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß Sie sich einen faulen Apfel ausgesucht haben. Jeder macht mal einen Fehler.«
Tony stand auf. »Gentlemen, keiner ist so blind wie der, der nicht sehen will. Ich hoffe nur, daß Ihre Blindheit Donna Doyle nicht das Leben kostet. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, auf mich wartet Arbeit.«
Auf dem Parkplatz lehnte er sich, den Kopf auf die gekreuzten Arme gebettet, an den Wagen. Was, zum Teufel, konnte er gegen soviel Sturheit tun? Nur Carol glaubte ihm, aber ihre Meinung zählte bei der West Yorkshire Police nicht mehr viel. Alle konventionellen Methoden hatten versagt. Sie brauchten nun Beweise, an denen es nichts zu rütteln gab. Also wurde es Zeit, die Dienstvorschriften zu vergessen. Er hatte das schon einmal getan, und es hatte ihm das Leben gerettet. Diesmal rettete es vielleicht Donna Doyle das Leben.
Carol starrte, die Hände in die Hüften gestemmt, auf die beiden Officer, die im Büro ihrer Dienststelle saßen. Der eine tippte irgend etwas ab, der andere blätterte Akten durch. Sie machten einen bedrückten Eindruck, die Neuigkeit hatte sich also schon herumgesprochen.
»Wo ist er?« fragte sie.
Die beiden verständigten sich rasch durch einen Blick, dann fragte der am Keyboard zurück: » DS Taylor, Ma’am?«
»Wer sonst? Ich weiß, daß er hier war, aber ich will wissen, wo er jetzt ist.«
»Er ist gegangen, kurz nachdem die Meldung wegen Di durchgekommen ist.«
Carol ließ nicht locker. »Und wo könnte er sich jetzt aufhalten?« Sie durfte keine Schwäche zeigen. Es ging nicht um ihre künftige Autorität, es ging um ihre Selbstachtung. Sie hatte den Schwarzen Peter und keineswegs die Absicht, sich vor ihrer Verantwortung zu drücken. »Also los, wo ist er?«
Wieder tauschten die beiden Detectives einen Blick. Diesmal lag Resignation darin. »Im Hafenmeister-Klub.«
»Um die Zeit trinkt er Alkohol?« fragte Carol ärgerlich.
»Das ist nicht nur eine Bar, das ist ein Klub. Da können Sie essen oder einen Kaffee trinken oder die Zeitung lesen.« Carol wollte gehen, aber der junge Detective rief ihr nach: »Sie können da nicht hingehen, Ma’am.« Carol fuhr herum und starrte ihn finster an. »Ist nur für Männer. Die lassen Sie da nicht rein«, stammelte er.
»Himmelherrgott!« explodierte Carol. »Na schön, respektieren wir die geheiligten Gepflogenheiten der christlichen Seefahrt. Hören Sie auf, in den Akten zu blättern, Beckham, und gehen Sie runter zum Klub. Ich möchte Sie und DS Taylor in spätestens einer halben Stunde hier sehen, sonst kassiere ich seinen Dienstausweis und Ihren gleich mit. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Beckham klappte den Aktendeckel zu, sprang hoch und drückte sich mit einer gemurmelten Entschuldigung an Carol vorbei. »Ich bin in meinem Büro«, knurrte sie den Detective am Keyboard an.
In ihrem Büro ließ sie sich, ohne den Wettermantel auszuziehen, in den Schreibtischsessel fallen und starrte auf die Stelle an der Wand, an der Di bei ihren Briefings immer gestanden hatte. Im Geiste sah sie sie vor sich – stupsnasig, mit starrem Blick, miserabel angezogen. Freundinnen wären sie nie geworden, das wußte sie, aber das machte alles nur noch schlimmer. Zu dem Schuldgefühl, daß sie zu der Zeit, als Di Earnshaw sterben mußte, nicht dagewesen war, kam das schlechte Gewissen, daß sie Di nicht sonderlich gemocht hatte.
Sie grübelte an der Frage herum, was Di möglicherweise falsch gemacht hatte. Welche Entscheidung mochte sie getroffen haben, die sie das Leben gekostet hatte? Aus welchem Blickwinkel sie es auch betrachtete, sie machte sich immer wieder denselben Vorwurf. Sie hatte ihre jungen Officer nicht knapp genug an der Leine gehalten, sich nicht genug in die Ermittlungen eingeschaltet. Statt dessen war sie sich wunder wie großartig dabei vorgekommen, Tony Hills Ermittlungen zu unterstützen. Nicht zum ersten Mal hatte sie sich von ihrer emotionalen Zuneigung zu einem Fehler hinreißen lassen. Diesmal war es ein tödlicher Fehler gewesen.
Das Telefon riß sie aus ihren quälenden Selbstvorwürfen. Sie nahm ab. » DCI Jordan?« meldete sie sich mit bedrückter
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