Schlussblende
über mit Paketklebeband zugepflasterte Archivbox. »Ich wollte schon die Sprengstoffexperten rufen«, knurrte der diensttuende Officer. »Wir sind auf einer Polizeidienststelle, nicht auf dem Postamt.«
»Um so besser. Dem Streß wären Sie nie gewachsen«, gab Shaz ihm eins drauf. Sie schleppte das Paket auf den Parkplatz, öffnete den Kofferraum, wuchtete es hinein und schielte rasch auf die Uhr. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie’s, wenigstens einen Blick hineinzuwerfen, bevor die Pause zu Ende war. Hastig riß sie das Klebeband mit den Fingern auf, bis sie den Kartondeckel auf der einen Seite ein Stück anheben konnte.
Ihr Magen verkrampfte sich. Der Karton war randvoll mit Fotokopien. Im ersten Augenblick dachte sie daran, ihren Verdacht einfach zu vergessen. Aber dann sah sie im Geiste die Gesichter der sieben Teenager – Gesichter, in denen sie so viele Hoffnungen las. Es mochte auch Enttäuschungen gegeben haben, aber nur eine davon hatte sie das Leben gekostet.
Hier ging es nicht nur um eine Übungsaufgabe. Irgendwo dort draußen trieb ein eiskalter Mörder sein Unwesen. Und es schien nur einen Menschen zu geben, der etwas von seiner Existenz ahnte. Sie, Detective Constable Shaz Bowman. Und wenn sie sich die ganze Nacht um die Ohren schlagen mußte, das, zumindest das war sie den verschwundenen Mädchen schuldig.
Carol erschrak, als sie sah, wie tief der Schmerz seine Spuren in Tony Hills Gesicht eingegraben hatte. Sie kannte ihn so lange, aber sie hätte nicht gedacht, daß das Erlebnis der Todesnähe ihn so erschüttern konnte. Sie hatte immer geglaubt, er sei wie sie – besessen davon, Zusammenhänge zu erkennen und Erklärungen zu suchen, getrieben vom Schaudern der Erinnerung an all die Dinge, die Leute in ihrem Beruf sehen, hören und tun mußten. Sie fragte sich nachträglich, ob sie ihm wohl seinerzeit anders begegnet wäre, wenn sie geahnt hätte, was hinter diesen dunklen, bekümmerten Augen vorging.
Natürlich hatte er dafür gesorgt, daß sie bei dieser ersten Begegnung seit Monaten nicht allein waren. Paul Bishop, der sie in der Lobby begrüßte, ließ seinen berühmten, von den Medien überaus geschätzten Charme spielen, nahm ihr – durch und durch Gentleman der alten Schule – die beiden schweren Aktentaschen ab und versicherte: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, John Brandons beste und gescheiteste Mitarbeiterin kennenzulernen. Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt, kein Wunder bei Ihren eindrucksvollen Erfolgen. Hat John mal erwähnt, daß wir Jahrgangskameraden an der Stabsakademie waren? Ein Mann mit dem richtigen Riecher für junge Talente.«
Unwillkürlich ließ Carol sich von seinen Schmeicheleien anstecken und fühlte sich bemüßigt, nun ihrerseits Brandons Loblied zu singen. »Es war mir immer ein Vergnügen, mit Mr. Brandon zusammenzuarbeiten. Und wie lassen sich die Dinge hier bei der neuen Spezialgruppe an?«
»Oh, Sie werden das gleich selber erleben«, antwortete Bishop ausweichend und begleitete sie in den Fahrstuhl. »Tony stimmt wahre Lobeshymnen auf Sie an. Wie angenehm er die Zusammenarbeit mit Ihnen stets empfunden hat …« Ein wissendes Lächeln. »Und dergleichen mehr.«
Nun wußte Carol, daß er ihr Honig ums Maul schmieren wollte. Sie zweifelte nicht daran, daß Tony Respekt vor ihrer dienstlichen Leistung hatte, aber von einer angenehmen Arbeitsatmosphäre hatte er sicher nicht gesprochen, das wäre ihm zu persönlich erschienen. Sie vermutete eher, daß er überhaupt nicht viel von ihr erzählt hatte, weil sonst womöglich auch der Fall des Bradfield-Mörders zur Sprache gekommen wäre, und das bedeutete unvermeidlich, Dinge zu berühren, die nur sie und ihn etwas angingen. Wie sie sich in Tony verliebt hatte, er aber wegen seiner sexuellen Probleme geglaubt hatte, ihre Gefühle nicht erwidern zu können. Und wie alle Hoffnung, daß sie doch noch einen Weg zueinander fänden, an der Brutalität eines Mörders erstickt war. Davon hätte Tony nie im Leben einem Dritten etwas erzählt, ebensowenig, wie sie das getan hatte.
Bishop drückte den Knopf für den fünften Stock und lächelte sie gewinnend an. Wenn ich ein Mann wäre, dachte sie kühl, hätte er mir lediglich gesagt, in welchen Stock ich fahren muß.
»Es ist eindeutig ein Bonus, daß Sie bereits mit Tony zusammengearbeitet haben. Unsere jungen Officer können viel lernen, wenn sie sehen, wie Sie sich ständig austauschen und wie einer den anderen
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