Schmerzlos: Thriller (German Edition)
ihm. Als er auf Höhe des Gerüsts war, hatte er ihn erreicht. Er streckte die Hand aus und packte den Fremden am Arm.
Ich hatte einen furchtbaren Fehler gemacht. Der Lärm war plötzlich wieder so laut wie vorher. Ich stürmte auf die Drehtür zu.
Der Fremde riss sich von Jesse los. Dann machte er einen Satz auf das Gerüst zu, packte einen Farbeimer und schleuderte ihn in Richtung von Jesses Kopf.
Ich war durch die Tür.
Jesse duckte sich. Der Farbeimer flog an ihm vorbei und krachte in die Glasfront. Mit einem lauten Krachen zersplitterte die Scheibe, über die sich wie ein Schwall Blut rote Farbe ergoss.
Einer der beiden Maler auf dem Gerüst begann laut zu fluchen.
Der Fremde stieß Jesse von sich. Er rollte nach hinten und krachte in das Gerüst. Die Maler rangen um ihr Gleichgewicht.
Einer von ihnen stürzte und suchte mit rudernden Armen nach Halt, während Farbeimer, Roller und Pinsel nach unten sausten. Im Fallen gelang es dem Mann, sich an dem Podest festzuhalten, und dort hing er jetzt, schwankte hin und her und fluchte wie wild. Die Sonne fiel durch das gesplitterte Fenster und tauchte ihn in blutrotes Licht. Archie kam angerannt, dann noch ein Sicherheitsbeamter in Uniform, dann ich. Der Marmorboden unter dem Gerüst war mit Trümmern übersät.
Jesse saß mitten in dem Chaos und hielt sich den Kopf. Die Augen hatte er geschlossen. Er war von oben bis unten mit roten Spritzern bedeckt.
Ich kniete neben ihm nieder. »Jesse!«
Er schnappte keuchend nach Luft, wie ein Stotterer, der nach Worten rang.
Der zweite Sicherheitsbeamte trat auf uns zu und fragte: »Ist das Blut?«
Ich fasste Jesse an den Schultern. »Bist du verletzt? Was hat er mit dir gemacht?«
Der Sicherheitsbeamte deutete mit dem Finger auf Jesse. »Er blutet.«
Entsetzt starrte ich auf die roten Spritzer an Jesses Hemd und Jeans. Dann fuhr ich mit den Fingern darüber.
»Das ist Farbe.« Meine Stimme klang seltsam und leicht panisch. »Hat er dich mit irgendwas getroffen? Hat er dich angesprüht? Mit was?«
Ich schaute mich um. Der Fremde war verschwunden. Hektisch winkte ich den Sicherheitsbeamten heran.
»Suchen Sie nach dem Mann. Blonde Haare, Baseballmütze.« Ich deutete auf die andere Seite der Eingangshalle. »Stehen Sie nicht einfach so rum. Jetzt machen Sie schon.«
Er zögerte kurz. Dann setzte er sich in Bewegung und riss im Laufen ein Walkie-Talkie von seinem Gürtel.
Jesse bekam offenbar keine Luft. Seine Ferse schlug gegen den Boden. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust und begann zu zittern.
Der Maler starrte ihn an. »Ach du Scheiße.«
Archie wich zurück. »Mist. Er hat einen Anfall.«
Jesses Hand zuckte. Er schien nicht mehr zu wissen, wie man atmet. Dann wurde mir endlich klar, was los war.
Ich hob den Kopf. »Ich brauche eine Papiertüte.«
»Stecken Sie ihm was in den Mund, damit er sich nicht an seiner Zunge verschluckt«, schlug der Maler vor.
»Ich brauche eine Papiertüte! Sofort!« Ich legte meine Hände an Jesses Wangen. »Du musst langsamer atmen.«
Er hyperventilierte. Ich beugte mich vor.
»Ganz langsam. Atme mit mir zusammen.«
Archie gestikulierte. »Stecken Sie ihm meinen Gürtel zwischen die Zähne. Nein, legen Sie ihn besser auf den Boden.«
Jesse kniff die Augen zusammen. Ich spürte, dass er sich wieder unter Kontrolle bekam.
Archie wich zurück. »Ich rufe den Notarzt.«
Jesse riss die Augen auf. »Nein.«
Es klang wie ein Husten. In seinen Augen stand ein flehentlicher Ausdruck, in den sich Verlegenheit mischte.
»Nein, das brauchen Sie nicht. Alles in Ordnung«, sagte ich schnell.
Archie schüttelte den Kopf. »Er hat einen Anfall. Damit ist nicht zu spaßen. Ich rufe jetzt bei der Polizei an, damit sie einen Notarzt herschicken.«
»Nein.« Jesse starrte auf seine zitternde Faust. Er atmete langsam ein und aus. Sein Fuß zuckte immer noch. Er drückte mit einer Hand auf das Knie und versuchte, die Bewegung zu stoppen.
»Ich will keine Schadensersatzklage am Hals haben, nur weil er in meiner Schicht einen Anfall hat.«
Jesse biss die Zähne zusammen. »Sie … holen … keinen … Notarzt.«
Er zwang seine Finger auseinander. Sein Fuß zuckte immer noch. Mir fiel ein, dass mir das Gleiche passiert war, als ich hyperventiliert hatte. Zu viel Sauerstoff, zu wenig Kohlendioxid. Die Chemie im Blut ändert sich, die Muskeln fangen zu zucken an. Ich hob beschwörend die Hand. »Bitte nicht. Es ist alles in Ordnung.«
»Aber ich schreibe ins Protokoll, dass Sie die
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