Schmetterlinge im Gepaeck
Sinne gleichen wir uns gegenseitig aus.
Wir sind schon beste Freundinnen, seit ⦠na ja, seit die Bells nicht mehr meine besten Freunde sind. Damals, als ich in den Kindergarten kam und sie merkten, dass es nicht mehr cool war, mit dem Nachbarsmädchen rumzuhängen, das nur halbtags in der Schule war. Aber dieser Teil unserer Geschichte ist nicht so hart, wie er klingt. Denn bald lernte ich Lindsey kennen, und wir entdeckten unsere gemeinsame Begeisterung für Rollasseln, meergrüne Buntstifte und diese kleinen »Little -Debbie«-Kuchen, die wie Weihnachtsbäume aussehen. Wir waren sofort Freunde. Und später, als mich unsere Klassenkameraden zu hänseln begannen, weil ich Ballettröckchen oder rubinrote Tanzschuhe trug, war es Lindsey, die zurückknurrte: »Steckâs dir sonst wohin, Armleuchter.«
Ich bin ihr wirklich treu ergeben.
Ob sie wohl was über den anderen Bell-Zwilling rausfindet?
»Wie bitte?«, sagt St. Clair.
»Häh?« Ich drehe mich um und stelle fest, dass er und Anna mich wieder so seltsam ansehen.
»Du hast irgendwas über einen Zwilling gesagt.« Anna hebt misstrauisch den Kopf. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du warst heute Abend wirklich sehr zerstreut.«
»Mir gehtâs super! Ehrlich!« Wie oft muss ich denn heute noch lügen? Ich melde mich freiwillig, um die Toiletten im dritten Stock zu putzen, damit ich mich nicht noch weiter im Lügennetz verstricke. Aber als Andy später auftaucht, um mich abzuholen â meine Eltern wollen nicht, dass ich so spätabends noch mit dem Bus fahre â, mustert er mich mit der gleichen Sorge. »Alles okay, Lola-Palola?«
Ich knalle meine Handtasche auf den Boden vor dem Beifahrersitz. »Warum fragen mich das ständig alle?«
»Vielleicht weil du aussiehst, als â¦Â« Andy zögert und sein Gesichtsausdruck ändert sich zu kaum verhehlter Hoffnung. »Habt ihr Schluss gemacht, du und Max?«
»Dad!«
Er zuckt mit den Achseln, aber sein Adamsapfel hüpft in seiner Kehle, ein sicheres Zeichen, dass er sich schlecht fühlt, weil er gefragt hat. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung, was Max und meine Eltern betrifft. Oder zumindest, was Max und Andy betrifft. Andy gibt in schwierigen Situationen immer als Erster nach.
Was ihn übrigens nicht zur »Frau« bei uns macht. Nichts ärgert mich mehr, als wenn jemand annimmt, einer meiner Dads sei kein richtiger Dad. Ja, Andy verdient seinen Lebensunterhalt mit Backwaren. Und er ist zu Hause geblieben, um mich groÃzuziehen. Und er kann ganz gut über Gefühle reden. Aber er repariert auch Steckdosen, beseitigt Verstopfungen in Küchenabflüssen, zerquetscht Kakerlaken und wechselt platte Reifen. Und Nathan mag der gestrenge Zuchtmeister und taffe Anwalt der amerikanischen Bürgerrechtsunion sein, aber er schmückt auch unser Haus mit Antiquitäten und muss bei Sitcom-Hochzeiten immer heulen.
Also ist keiner von beiden »die Frau«. Sie sind beide schwule Männer. Fertig.
AuÃerdem entsprechen ja auch nicht alle Frauen diesem Klischee.
»Ist es ⦠wegen unserer Nachbarn?«, fragt Andy zaghaft. Er weià genau, dass ich nichts sagen werde, wenn es um sie geht.
»Es ist nichts, Dad. Ich hatte nur einen langen Tag.«
Wir fahren schweigend nach Hause. Als ich aus dem Auto steige, schaudere ich, aber nicht, weil es so kalt ist. Ich starre das lavendelblaue viktorianische Haus an. Das Schlafzimmerfenster gegenüber von meinem eigenen. Es brennt kein Licht darin. Die Kälte, die mein Herz gepackt hat, löst sich ein wenig, lässt es aber nicht los. Ich muss in dieses Zimmer hineinsehen. Mit einem Adrenalinstoà rase ich die Verandatreppe rauf, ins Haus und die Treppe in den ersten Stock hinauf.
»Hey!«, ruft Nathan mir nach. »Keine Umarmung für deinen alten Pa?«
Andy spricht leise mit ihm. Jetzt, wo ich vor meiner Zimmertür stehe, fürchte ich mich davor reinzugehen. Was total bescheuert ist. Eigentlich bin ich ein mutiger Mensch. Warum sollte mir ein einzelnes Fenster Angst einjagen? Trotzdem warte ich ab, um sicherzugehen, dass Nathan nicht nach oben kommt. Was immer mich auf der anderen Seite erwartet, ich will nicht dabei gestört werden.
Er kommt nicht. Sicher hat Andy ihm gesagt, dass er mich lieber in Ruhe lassen soll. Gut so.
Ich öffne meine Tür mit gespielter Selbstsicherheit. Ich taste nach dem
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