Schmetterlingsgeschichten - Chronik II - Rock 'n' Roll (German Edition)
noch
stundenlang anstarren können. Sie ging zu dem Eingang und stellte fest, dass sie
immer noch nach draußen gucken konnte. Ein leises, kaum wahrnehmbares Surren
umgab den Eingangsbereich. Es war, als würde sich ein Film von oben bis unten
ziehen. Vorsichtig wollte sie diesen Vorhang berühren, doch ihre Hand glitt hindurch.
Cassandra streckte jetzt ihren ganzen Arm und bewegte sich dabei einen Schritt
nach vorne. Ihr Körper glitt hindurch.
Nur
kurz stand sie vor dem Höhleneingang und sah, dass da gar keine Höhle mehr war.
Von außen gab es keinen Eingang mehr. Keine Höhle! Dort stand nur eine massive Steinwand,
die einfach ein Teil von dem Berg zu sein schien. Sie ging einen Schritt zurück
und verschwand wieder in dem Berg.
Die
blaue Rose leuchtete immer noch, und Cassandra ging wieder auf sie zu. Sie
kniete sich auf den Boden und berührte die zarten Linien. Sie waren wunderbar
warm. Erneut legte sie ihre Hand in die Form am Ende der Rose, und der Handabdruck
passte sich nach kurzer Zeit wieder an. Sie betrachtete wieder die Rose. Hatte
sich das Bild gerade verändert? War die eine Seite, die, auf der das männliche
Symbol lag, schroffer gezeichnet? Und waren die Linien über dem weiblichen
Symbol auf einmal sanfter? Die Rose war ein Ganzes, doch kam es ihr vor, als
wäre sie zusammengesetzt.
»Nein«,
dachte sie. »Das war so nicht richtig.« Beides gehörte unzertrennbar zusammen.
Nicht zusammengesetzt. »Es war schon immer so«, fühlte sie es in sich. Und
während sie das Bild noch länger betrachtete, verschwammen die augenblicklichen,
unterschiedlichen Linien wieder und in ihrem Verstand, in ihren Geist, in ihre
Seele schlich sich ein Wort in einer Sprache, das sie noch nie gehört hatte.
Sie
fühlte eine Einheit. Eine Kraft, einen Willen, einen Geist. Gänsehaut überlief ihren
Körper. Es durchströmte sie eine unvorstellbare, grenzenlose Energie. Cassandra
schien in diesem Moment mit der blauen Rose zu verschmelzen. Das Blau der Rose
ergriff ihre Hand und lief ihren Arm hoch wie zarte Spinnenweben, direkt zu
ihrem Herzen. Sie fühlte sich so glücklich, dass ihr die Tränen kamen. Sie
wollte vor Freude aufschreien. Das fremde Wort brannte sich in ihren Verstand,
so deutlich, so klar. Sie konnte nicht anders, als dieses Wort auszusprechen.
Es ging nicht anders. Langsam öffnete sie den Mund. Sie hatte das Gefühl, ihr
Atem sog in diesem Moment mit einer Leichtigkeit alle Kraft des Universums
zusammen. Langsam bewegten sich ihre Lippen, als sie ein einziges Wort
aushauchte: »One«.
Nachdem
Cassandra dieses Wort ausgesprochen hatte, passierte etwas Eigenartiges. Die gesamte
blau umrandete Steinplatte setzte sich in Bewegung.
Erschrocken
fuhr Cassandra hoch. Die Platte senkte sich ein Stück und fuhr dann zur Seite.
Was Cassandra dann sah, verschaffte ihr augenblicklich ein beunruhigendes
Gefühl: Vor ihr zeigte sich eine lange Treppe, die im Dunkeln verschwand, so dass
sie ein Ende gar nicht ausmachen konnte. Ein Schwall kam ihr entgegen, der nach
sehr, sehr alter Luft roch. Eine dicke Staubschicht lag auf den ersten sichtbaren
Stufen, an den Wänden konnte sie vage Spinnenweben ausmachen. Was sollte sie jetzt
machen? Sie hatte ja keine Ahnung, wohin der Weg sie führen würde…
Cassandra
drehte sich um und schaute zu dem verschleierten Höhleneingang. Wenn sie da
wieder rausgehen würde, dann…
Ihr
kamen die Bilder von der Familie auf der Kreuzung wieder hoch. Jetzt spürte sie
ihre schmerzenden Beine noch deutlicher.
»Nein!
Da gehe ich nicht wieder raus«, sagte sie sich leise. Cassandra drehte sich
wieder um und machte entschlossen den ersten Schritt. »Schlimmer kann es gar
nicht werden«, sprach sie sich selber Mut zu. Langsam ging sie die Stufen
hinunter. Sie drückte auf ihr Komm-Display und schaute auf die Uhr. Es war 2.32
Uhr. Sie ließ das Licht des Displays wieder ausgehen, denn sie wollte Energie
sparen.
Sie
wusste ja nicht, wann und ob sie überhaupt jemals wieder dazu kam, es
aufzuladen. Cassandra steckte den Kommunikator wieder ein und tastete sich mit
der rechten Hand an der Wand die Treppe herunter. Sie war gerade soweit weg,
dass sie den Treppeneingang nur noch als eine kleine Lichtquelle ausmachen
konnte, als sie sah, dass sich die Platte wieder bewegte.
Die
Steinplatte schob sich in ihre Ausgangsposition wieder zurück. Undurchdringbare
Dunkelheit fiel über Cassandra. Panik kroch in ihr hoch. Was sollte sie
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