Schmetterlingsjagd (German Edition)
wunderschönen, zerbrochenen Gegenstände zu einer anderen, entfernten Insel. Außer Sichtweite.
Ich bin vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, allein in meinem eigenen ausgetrockneten Raum. Der einzige andere Gegenstand in diesem Zimmer ist das Nachttischchen und das Handy, das darauf liegt. Also nehme ich es, und, von den Zehenspitzen bis zum Hals zitternd, öffne ich das Handy und stecke Sapphires SIM-Karte hinein.
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Kapitel 27
Das Display leuchtet auf. Kleine schwarze Pünktchen formen sich zu Worten: Bitte geben Sie Ihren dreistelligen Sicherheitscode ein.
Scheiße. Scheiße. Scheiße. Ich versuche alle möglichen Kombinationen und verhandele heimlich mit dem Schicksal, damit es meine Finger zu den richtigen Ziffern führt. Bitte verrate mir den Code, und ich entschuldige mich bei Dad; ich kümmere mich mehr um Mom; ich werde stärker gegen all die merkwürdigen, scheußlichen Dinge ankämpfen, die mich mein Gehirn tun lässt; ich werde den Obdachlosen helfen – zählt Flynt auch?
Drei-sechs-neun; nichts.
Eins-null-eins; nada.
Neun-neun-neun; nix.
Dann habe ich plötzlich eine Idee – eine göttliche Eingebung: Vier-drei-sieben – die Zahl, die Sapphire bis zur Erschöpfung in meinen Träumen wiederholt hat. Die Zahl aus ihrem Tagebuch.
In das Display kommt Bewegung. Laden …
Sechs Mal küsse ich den kleinen Bildschirm, drei Sekunden liegen zwischen jedem Kuss. Eine kleine Computersanduhr erscheint, und Computersand strömt unter meinen Lippen langsam von oben nach unten. Dann bin ich mit dem Küssen fertig und schaue auf das Display – geladen . All ihre Kontakte, all ihre SMS. Meine Finger zittern – eigentlich die ganze Hand. Meine Beine auch.
Ein winziger Briefumschlag: Klick.
Mit zittrigen Fingern: suche Telefonnummer: Bird.
Alte Nachrichten – tonnenweise, seitenweise.
Ich scrolle zur ersten, zur ältesten von vor über zwei Jahren, als Oren noch zu Hause wohnte, bevor er ein wackeliger, hohlwangiger Zombie-Bruder wurde. Und dann habe ich das Bedürfnis, das Display erneut zu küssen, sechs Mal, drei Sekunden zwischen den Küssen; vielleicht spürt er es auch. Vielleicht spürt er, wie schmerzhaft ich ihn vermisse, die ganze Zeit, jede einzelne abgesplitterte Sekunde jedes einzelnen zerklüfteten Tages.
Ich bin fertig mit dem Küssen und schaue auf den Bildschirm.
3. Februar 08; 10.06: Du schläfst gerade neben mir. Du bist ganz in die Decken eingewickelt und siehst aus wie ein köstliches Mädchen-Sandwich. Kann sein, dass ich dich essen muss, bevor du aufwachst. Wollte nur, dass du das weißt .
12. März 08; 14.36: Hey. Bin bei Clem bis 7, aber Joe ist nicht da, also kann ich hier vielleicht früh raus, damit wir picknicken können. Und hey, Mädchen, vergiss nicht die E-beeren! P. S.: Du bist so hübsch !
20. Mai 08; 17.11: Ich liebe dich wie verrückt. Ich habe mir gerade überlegt … lass uns ein riesiges Nest in einem Baum bauen und darin zusammenleben!!! Ich mein’s ernst!!! ’kay? !
Ich öffne die nächste Nachricht, und ein Bild baut sich auf, grobkörnig. Ich schlinge die Arme um meinen Brustkorb und spüre, wie sich mir das Herz in den Hals hebt.
Er ist es – es ist Oren, mit Sapphire. Sie knien und halten Händchen unter einer riesigen Eiche. Sein Gesicht, das Gesicht meines Bruders, sieht glücklich aus, glücklicher, als es lange war, und nüchtern; sie sieht so jung aus und trägt ein sauberes weißes T-Shirt, Jeans und kein Make-up – nicht einmal ihren unvermeidlichen Lippenstift. Sie wirken so verliebt.
So lebendig.
Mein Magen zieht sich zusammen. Durch einen Tränenschleier lese ich weiter – hin zu dem Zeitpunkt, an dem Oren verschwand, zu den Monaten und Wochen, bevor er allein auf kaltem Beton verrottete –, und die Einträge in Sapphires Tagebüchern, in denen es um Birds Zerrüttung ging, werden langsam verständlich.
Ich kann dich heute nicht sehen. Ich muss allein sein. Sonst reiß ich mir die Haut runter.
Und dann: Ich versuch’s, Baby. Aber nichts funktioniert. Nichts wird je klappen. Ich glaube, ich werde verrückt. Und: Ich kann dir nicht sagen, wo ich bin ich weiß nicht wo ich bin ich bin krank.
Und schließlich: Tut mir leid, dass ich nicht zu unserem Jahrestag-Namens-Dings gekommen bin – ich bin einfach nicht aufgewacht. Ich kann gar nichts mehr tun.
Er muss auf Entzug gewesen sein. Stimmungsschwankungen – das waren seine Fluchten, seine Zerrüttung, seine geistigen
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