Schmetterlingsjagd (German Edition)
jetzt hier sein könnte. Er hätte das toll gefunden, er hätte Wetteinsätze vorgeschlagen, um das Spiel spannender zu machen, das tat er immer. Er hätte gewonnen, und wir hätten ihm volle zwei Wochen lang den Rücken kratzen müssen, wann er immer er es wollte. Ob er wohl jemals Mülltonnenbowlen war, bevor er uns verließ, bevor er für immer ging?
Das Stückchen Papier, das ich immer in meinem Schuh aufbewahre, rutscht nach hinten und drückt unangenehm in meine Ferse.
Und da spüre ich ihn: den Drang, der sich in mir aufbläht wie ein Ballon, der aufgepustet wird. Ich versuche, die Luft aus ihm zu lassen, damit Flynt es nicht bemerkt – ich presse die Handflächen gegen den Kopf, um ihn in mir zu behalten, aber ich schaffe es nicht. Er ist einfach zu stark, es tut weh, er drückt gegen meine Hände, bis sie von der Stirn fliegen. Ich gehe zu den umgekippten Mülltonnen und berühre jede einzelne – sechs – für den Fall, dass Oren sie vielleicht irgendwann einmal berührt hat. Sechs Mülltonnen. Vielleicht nehme ich so seine Zellen in mir auf, und vielleicht wächst in mir ein Stück von ihm. Sechs Hoffnungsschimmer. Drei Atemzüge bei jeder Tonne. Sechs Gelegenheiten für ihn zurückzukommen. Achtzehn Atemzüge. Achtzehn Versuche, ihn einzuatmen.
Flynt brüllt jetzt, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich bin stehen geblieben, habe mich in meinen Gedanken verloren, und er ist schon weiter gegangen. Ich renne zu ihm, und er führt mich weiter, weiter nach Neverland hinein, in die Stadt der verlorenen Kinder.
***
«Hierher kommen die Drogensüchtigen, um sich Heroin zu besorgen, und an der Ecke gegenüber kaufen die Kokser ihr Kokain, und hier drüben bieten sie dir Crystal Meth an, wenn du richtig verzweifelt bist», erklärt Flynt, «alles hat seine Ordnung hier.»
Wenn er mir von Neverland erzählt, fühle ich mich ganz klein und jung. Das Schlimmste, was einem in der High School passieren kann, ist, dass man beim Schwänzen im Einkaufszentrum erwischt wird oder beim Rauchen hinter den Chemielaboren – nichts ist grauenvoller als Nachsitzen oder Hausarrest, weil man dann nicht auf Sarah Morelands berühmt-berüchtigte Abschlepppartys gehen kann. Keiner in der Carver-Blase kann sich vorstellen, wie viel schlimmer die Dinge sein könnten – oder wie viel besser.
Flynt steuert mich die trostlose Straße hinunter. Die paar Gebäude, die noch stehen, haben eingeworfene Fensterscheiben und sehen aus, als ob in ihnen ein Brand gewütet hätte.
Neverland erstreckt sich vor uns wie ein schlechtgeplantes Labyrinth, in dem nichts zusammenpasst oder irgendwohin führt. Als ob der Ort von ein paar Leuten geplant wurde, die mitten in der Bauphase keine Lust mehr hatten: die Kirche ohne Kirchturm, das verrostete Vogelbad, das als eine Art Gemeindebriefkasten benutzt wird, in den man Nachrichten wirft und wieder herausnimmt, das unbebaute Grundstück, auf dem lauter Waschbecken und Toiletten und kaputte Metallrohre herumliegen und das hier als das «Badezimmer» bekannt ist. Flynt erklärt, es sei ein beliebter Treffpunkt in Neverland.
Die Hälfte der Leute, die wir treffen, sind andere Ausreißer. Sie hocken mitten auf dem Bürgersteig und teilen sich wie das Rote Meer, um uns durchzulassen, als wäre Flynt Moses. Ein paar heben ihre Fäuste, als wir an ihnen vorbeigehen, um uns ihre Solidarität zu bezeugen, andere pfeifen uns nach, und Flynt muss lachen und dann schnauben, und das bringt mich auch zum Lachen.
Wir biegen in einen schmalen Durchgang, vor dem ein schwerer Vorhang hängt. Ich stecke die rechte Hand in meine Jackentasche, tip tip tip, Banane . Ich banane die leiseste Banane der Welt, ein neues Spiel: Wie leise kann ich bananen , ohne vollständig zu verstummen.
Und dann verschlägt es mir die Sprache. Hinter dem Vorhang beginnt das magische Reich von Narnia, als ob wir in eine andere, geheime Welt getreten wären. Vor uns erstreckt sich ein riesiger, offener Raum, in dem wie zufällig Steinmauern mit Treppen stehen, die nirgendwohin führen. Alles ist mit abstrakten Wandgemälden in fröhlichen Farben bedeckt und mit blinkenden Lichtern und bunten Stoffen bespannt. Und überall sind Leute, in langen Röcken und geflickten schwarzen Jacketts mit Piercings in den Ohren, Nasen, Lippen und Zungen, einige mit Dreadlocks wie Flynt, andere mit kahlrasierten Köpfen oder bunt gefärbten Strähnen.
Ein paar Leute sitzen im Kreis und schlagen mit den Händen auf Mülleimerdeckel, Töpfe und
Weitere Kostenlose Bücher