Schmetterlingsjagd (German Edition)
große Hand meine umschließt und mich immer im Kreis herumführt. Im Kopf zähle ich jede Drehung mit: vier, fünf, sechs. «Oder eigentlich waren sie merkwürdig. Jetzt sind sie gar nichts mehr.» Ich beiße mir auf die Lippe und wünschte, ich hätte das nicht gesagt. «Und? Was steckt hinter deinem Namen? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der Flynt heißt.»
Er lässt meine Hand fallen und macht eine alberne Ballerina-Drehung mit über den Kopf erhobenen Armen. «Nur ein Spitzname. Wegen Larry», sagt er und dreht sich immer weiter weg.
«Larry?» wiederhole ich.
«Larry Flynt.»
Wenn Flynt mich nicht führt, mag ich nicht tanzen. Ich schlinge die Arme um meinen Körper und presse die Fingerspitzen hart in die Schultern; jeden Finger drei Mal, drück drück drück . Dreißig, dreißig Drücker. Die Zahl entspannt mich, mein Nacken wird wieder locker, ich schüttele den Kopf.
Flynt hebt die Augenbrauen. «Mr. Flynt war zufällig der Porno-Mogul seiner Zeit. Er war ein ziemlich bekannter Schweinkram-Verleger und besaß eine Stripclub-Kette und all solche Dinge.»
Ich blinzele ihn an. «Und? Du bist also heimlich ein Porno-Mogul?»
«Nicht ganz.» Er lacht. «Du hast wirklich noch nie von Larry Flynt gehört?»
Ich schüttele wieder den Kopf, und Flynt greift herüber und kneift mich ins Kinn, als wäre ich sechs und nicht sechzehn. «Du kommst wirklich aus Lakewood, oder?»
«Ich kenn mich mit Pornos eben nicht so aus», entgegne ich steif und weiche ein wenig zurück.
«Hey, hey, hey.» Flynts Stimme klingt weich. «Ich finde das süß. Ich finde es eigentlich richtig toll.»
Süß. Toll. Genau wie schön : Wörter, die nie zu mir gepasst haben, Wörter, von denen ich immer geglaubt habe, dass sie für eine andere Sorte Mädchen bestimmt sind.
«Die Leute haben angefangen, mich Flynt zu nennen, weil ich mein Geld in Stripclubs verdient habe, als ich aus Baltimore hierher nach Cleveland gezogen bin.» Weil ich die Augenbrauen hebe, beeilt sich Flynt, eine Erklärung hinterherzuschieben. «Ich habe die Stripperinnen für ihre Kunden gezeichnet. Die erlauben keine Fotoapparate in den Clubs, weißt du? Ich war ein Ein-Mann-Dienstleistungsunternehmen in der Dienstleistungsindustrie.» Ich merke sofort, dass er den Satz schon oft gesagt hat. Er bewegt die Augenbrauen wie eine Zeichentrickfigur auf und ab. Er will mich hochnehmen.
Aber das mit den Stripperinnen hat mich auf eine andere Idee gebracht.
«Hast du dann vielleicht Sapphire gekannt?» Meine Stimme klingt ganz schwach und hoch. «Du weißt schon. Die Stripperin, meine Freundin, die letzte Woche umgebracht wurde? Vielleicht hast du sie mal gezeichnet?» Mund und Hals sind wie ausgetrocknet und kratzen. Ich warte auf seine Antwort. Er muss sie doch kennen. Das geht gar nicht anders. Der Wind nimmt zu. Die Stadt unter uns sieht aus, als stünde sie in Flammen.
Flynt zuckt die Achseln. «Weiß ich nicht. Ich meine, es gibt vielleicht ein halbes Dutzend Stripclubs allein in Neverland, und die Stripperinnen kommen und gehen. Es sind einfach zu viele, um die Übersicht zu behalten. Eigentlich kenne ich nur ein paar von ihnen.» Er schaut mich aus den Augenwinkeln heraus an.
Und plötzlich dämmert es mir, die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube: Er verschweigt mir etwas.
«Sie hat im Tens gearbeitet», sage ich. «Kennst du das Tens?»
Ein paar Sekunden verstreichen. Er scheint zu überlegen. «Ja, ich kenne das Tens», antwortet er schließlich. «Ich war da aber schon eine Weile nicht mehr. Vielleicht hat Sapphire dort erst angefangen, als ich schon nicht mehr hingegangen bin, um zu zeichnen.»
Der nächste Schlag in die Magengrube. Er lügt. Ich weiß auch nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es einfach. Mein Herz fühlt sich in meiner Brust an wie ein riesiger pochender Wal. Ich zähle die Dächer in der Ferne. Acht rote, vier dunkelblaue. Fünf hellblaue. Alles schlecht. Schlecht schlecht schlecht. Unruhe kriecht in mir hoch, durchdringt mich langsam. Aber – ich versuche, die Sache für mich zu retten – wenn ich die blauen zusammenzähle, vier hellblaue und fünf dunkelblaue, dann ergibt das neun . Neun ist sehr gut.
«Ich wollte da eigentlich bald mal hin», sage ich und schließe meine Finger um den Schmetterling in meiner Jackentasche. Bewusst entspanne ich meinen Gesichtsausdruck und meine Stimme, um möglichst beiläufig zu klingen. «Ich fühle mich irgendwie schuldig, weil ich sie so lange nicht
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