Schmetterlingsschatten
Schule sein, oder? Außerdem habe ich euch doch gesagt, dass keine Besuchszeit ist. Ihr könnt später wiederkommen.«
»Bitte«, mischte Elena sich ein, »es ist wichtig, dass wir ihn sehen.«
»Wichtig… ich kann mir nicht vorstellen, was so wichtig ist, dass ihr nicht bis heute Nachmittag warten könnt. Schließlich liegt der Patient nicht im Sterben. Und nun ab mit euch! Wenn ihr euch beeilt, verpasst ihr nicht den ganzen Unterricht. Ihr werdet noch Ärger bekommen.« Damit wandte sie sich ab und betrat Marks Zimmer. Elena warf Vivienne einen Blick zu, dann packte sie sie am Ärmel und zog sie den Gang hinunter bis zur nächsten Toilette. Dort schlüpfte sie in den Vorraum, ließ aber die Tür einen Spalt offen, damit sie sehen konnte, wann die Schwester Marks Zimmer wieder verließ.
»Ich werd jetzt nicht einfach wieder weggehen«, zischte sie ihrer Freundin zu, »aber du musst aufpassen, wenn ich drin bin. Besser, wenn die Schrulle mich nicht erwischt, sonst ruft sie noch Mama an.«
»Okay«, flüsterte Vivienne, »aber wie soll ich dir Bescheid geben, wenn sie wiederkommt? Ah, ich weiß!« Sie fingerte ihr Handy aus der Schultasche, schaltete es ein und drückte es Elena in die Hand. »Ich hab im Flur ein Telefon gesehen. Wenn die Schwester zurückkommt, werd ich auf dem Handy anrufen, okay?«
»Und wenn jemand anderes anruft?« Elena zweifelte, ob das wirklich eine so gute Idee war. »Oder wenn die Schwester das Handy vom Flur aus hört? Die kommt doch rein!«
»Mach dir nicht in die Hose, das Handy ist auf Vibrationsalarm. Und anrufen wird schon keiner, schließlich bin ich offiziell in der Schule.«
Mit einem Schulterzucken steckte Elena das Handy in die Hosentasche, dann warf sie wieder einen Blick auf den Gang. »Sie kommt raus«, flüsterte sie und zog sich von der Tür zurück. Hastig huschten sie in die erste Toilettenkabine. Draußen auf dem Gang klapperten die Schritte der Schwester vorbei.
»Jetzt«, murmelte Vivienne, als nichts mehr zu hören war. Elena eilte durch den Vorraum, öffnete die Tür, warf einen prüfenden Blick auf den Gang und rannte dann zu Marks Zimmertür. Ohne zu klopfen, schlüpfte sie hinein.
Der Geruch nach Medikamenten war im Zimmer noch stärker als auf dem Gang. Es war ein kleines helles Zweibettzimmer, vor dem Fenster wiegten sich dunkelgrüne Baumwipfel im Wind. Im vorderen Bett lag ein alter Mann und schlief offensichtlich. Seine Haut war weiß und sah aus wie zerknittertes Papier, seine Haare dünn und wirr. Rasch wandte Elena den Blick ab und drückte sich an dem Mann vorbei zum hinteren Bett.
Beinahe hätte sie Mark nicht erkannt. Sie hatte sowieso nie viel mit ihm zu tun gehabt, seit Lauras Tod überhaupt nicht mehr. Aber sie hatte ihn von Zeit zu Zeit auf dem Schulhof gesehen. Sein Aussehen jagte ihr einen gewaltigen Schreck ein. Ein dicker weißer Verband verdeckte sein hellbraunes Haar, dunkle Blutergüsse überzogen sein Gesicht, seine Lippe war aufgesprungen und immer noch blutverkrustet, sein linker Arm war eingegipst. Er lag mit geschlossenen Augen da und atmete flach. Wahrscheinlich hatte er sie nicht hereinkommen hören. Einen Augenblick zögerte sie, ihn anzusprechen, doch dann fasste sie sich ein Herz.
»Mark…?« Sie war sich nicht sicher, ob er schlief. Zu ihrer Erleichterung schlug er beinahe sofort die Augen auf. Er blinzelte, schien sie nicht sofort zu erkennen, doch dann richtete er sich überrascht in seinem Bett auf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen und ein Stich des schlechten Gewissens durchfuhr Elena.
»Elena. Was machst du denn hier?«
Sie wandte den Blick ab, starrte aus dem Fenster und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Jetzt, wo sie hier war, kam ihr die ganze Idee, ins Krankenhaus zu fahren, völlig bescheuert vor. Aber für einen Rückzieher war es zu spät. Sie gab sich einen Ruck und sah Mark wieder an. Sogar ein freundliches Lächeln brachte sie zustande.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht. Und… und ich wollte wissen, ob du weißt, wer…?« Sie brach ab, denn in Marks Gesicht zeichnete sich plötzlich nackte Angst ab. Beinahe panisch sah er sich in dem Zimmer um, als könnten seine Angreifer in jedem Moment aus dem Bad gestürmt kommen.
»Ich weiß nichts«, sagte er viel zu hastig für Elenas Geschmack. »Ich konnte niemanden erkennen.«
»Warum hast du solche Angst?«, rutschte es ihr heraus. »Hier bist du doch in Sicherheit.«
Er lächelte traurig. »Hier vielleicht«, gab er zu, »aber wenn
Weitere Kostenlose Bücher