Schmetterlingstod: Kriminalroman (German Edition)
wirken, diese vertraute Ruhe des Schlossberges.
John Dietz
schob sich einen Kaugummi zwischen die Lippen und wühlte in seinen Taschen. Außer
einer Tasse Kaffee hatte er noch nichts zu sich genommen. Sein Magen knurrte, seit
er zuvor das Büro aufgesucht hatte, um sich um Elvis zu kümmern. Ein Frühstück wäre
tatsächlich nicht schlecht. Doch er musste dabei sparsam sein. Ohne Aufträge kein
Geld, ohne Geld keine Rühreier in einem der gemütlichen City-Cafés. Und wieder suchte
ihn die Erinnerung daran heim, wie er ganz nonchalant einen 100-Euro-Schein in Chantals
geöffnete Hand hatte gleiten lassen. Wenn er Laura Winter über seine Bemühungen
aufklären würde, dann würde sie womöglich auch in finanzieller Hinsicht … In diesem
Fall müsste er ihr allerdings von Lady Butterfly erzählen. Und noch sperrte sich
etwas in ihm dagegen. Alles erschien ihm bislang viel zu vage, viel zu dunkel.
So dunkel
wie jener Moment des Vorabends, als er in diesem gespenstisch leeren Haus gestanden
hatte, unfähig, einen einzigen Muskel zu regen, völlig überrascht. Nicht nur aufgrund
des Unsichtbaren, der sich offenbar die ganze Zeit schon im Verborgenen gehalten
hatte und plötzlich das Weite suchte – sondern vor allem aufgrund der Angst, die
John packte. Eine Furcht, die angesichts des letztlich harmlosen Zwischenfalls kaum
nachvollziehbar zu sein schien – und die dennoch fast so einnehmend war wie vor
Kurzem, als ihn dieser kaltäugige Kerl mit dem Messer bedroht hatte. Ja, Furcht,
Angst, Schiss. Und alles nur wegen eines obdachlosen Weißweinfreundes. Ganz schön
peinlich.
So komisch
es ihm jetzt auch vorkam: Über mögliche Gefahren seines neuen Jobs hatte John Dietz
sich praktisch keine Gedanken gemacht. War die Detektiv-Branche wirklich seine Branche?
»Ach, was
soll’s«, sagte er, absichtlich laut. Der Klang der eigenen Stimme sollte ihm neues
Zutrauen geben. Was überaus nötig war. Laura Winter könnte sich ein Schmunzeln bestimmt
nicht verkneifen, würde sie ihn sich mit weichen Knien in der Finsternis dieses
Gebäudes vorstellen. Besser, er erwähnte die kleine Episode erst gar nicht. Anrufen
würde er sie allerdings dennoch – gestern hatte er einfach immer den richtigen Moment
verpasst. Anderseits hatte sie sich ebenfalls nicht gemeldet, sein Handy war den
ganzen Nachmittag und Abend über stumm geblieben.
Moment mal!,
durchfuhr es John. Während des Gesprächs mit Rainer Metzler hatte er das Handy lautlos
gestellt. Und seither … Mit hastigem Griff zog er es aus der Jackentasche. Du hast
ein Gedächtnis wie ein Sieb!, schimpfte er auf sich ein.
37 Anrufe.
Zwischen 16 und 23 Uhr. Jeder einzelne dieser 37 von einer einzigen Nummer. Laura
Winters Handy. Nur einmal, bei ihrem ersten Anruf, hatte sie eine Nachricht auf
die Mailbox gesprochen. Kurz, knapp und eindringlich: ›John, ruf mich sofort zurück!
Es ist etwas passiert!‹
Er fuhr
sich mit der Zunge über die Lippen und starrte auf das Display. »Ach du dickes Ei«,
murmelte er leise. Dann betätigte er die Rückruf-Funktion. Einen ganzen Tag später
war nicht gerade ›sofort‹, doch jetzt ließ sich nichts mehr an der dummen Sache
ändern.
Ihr Handy
war eingeschaltet. Angespannt lauschte John dem Freizeichen, das sich wiederholte
und wiederholte und wiederholte. Er beendete die Verbindung und versuchte es erneut.
Beiläufig nahm er die Nebelschwaden wahr, die sich doch noch auflösten, auf einmal
ziemlich schnell, als wollten sie einen weiteren schönen, eigentlich viel zu warmen
Herbsttag nicht verderben.
Wiederum
nur das immer gleiche entnervende Tuut, Tuut, Tuut. In dem Moment, als er aufgeben
wollte, erklang Lauras Stimme. Ebenso kurz und knapp wie auf seiner Mailbox: »Was
willst du?«
»Ähm.« Er
fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Sorry, dass ich mich jetzt erst melde, aber
ich war …« Was sollte er sagen? Die Wahrheit? Nein, wie würde sich das anhören?
»Ich wollte dich die ganze Zeit zurückrufen«, meinte er schließlich. »Aber ständig
kam irgendwas dazwischen und …«
»Schon gut,
John«, unterbrach sie ihn gelassen. Eine Gelassenheit, die keineswegs zu der Eindringlichkeit
ihres gestrigen Anrufes passte.
»Kann ich
etwas für dich tun?«
»Nein, danke.«
Was sollte
denn das jetzt? 37 Anrufe und dann bloß ein ›Nein, danke‹. »Es muss doch einen Grund
dafür geben, dass du …« Die Worte gingen ihm einfach aus. Vielleicht aufgrund der
Kälte, die ihm da durchs Handy entgegenschlug. Oder war es Wut?
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