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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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dem dieser eine Herr die Ankündigungen der nächsten Filme an der Wand studiert.
    Der Trailer für einen seit fünfzig Jahren bestehenden Kinoverband, der in fünfzig Sekunden fünfzig berühmte Schauspielerinnen zeigt, von jeder ein mit Worten kaum zu beschreibender Moment. Hat der Regisseur ihnen erklärt, wie sie aussehen sollten, weil er es einmal in der Wirklichkeit beobachtet hatte? Unmöglich, der Anblick ließe sich gar nicht von der Schauspielerin trennen. Was heißt es dann aber, Regie zu führen, wenn solche entscheidenden Momente, die aus einem Film ein Stück Kulturgeschichte machen, in keinem Drehbuch stehen können und tausend glückliche Zufälle zusammenkommen müssen, damit sie zustande kommen? Die Intensität von Kinobildern, immer eine Provokation für die Wirklichkeit, die daneben wirkt wie eine zwar durchaus ähnliche, aber ungleich weniger attraktive Schwester.
    Dann Werbung für »Europa Cinemas«, bei der nichts als eine Reihe Städtenamen eingeblendet werden »Sofia«, »Kiew« … Jeder versetzt einem einen kleinen Stich, die Welt ist so groß, es reicht nicht mehr, wie für Goethe, nach Rom zu gehen, um alles Wesentliche gesehen zu haben.
    Der Film ist eine beglückende Explosion von Ideen, ein Regisseur, der nicht aufgehört hat zu spielen. Wieviel Arbeit es gemacht haben muß, das alles so anzuordnen, daß jeder Einfall seinen Platz hat und die Zeit nicht reicht, sich alle zu merken. Die Arbeitsleistung, die sich im Zuschauer als Freude entlädt. Wäre mehr Liebe in der Welt, hätte ich auch mehr vom Film mitbekommen, weil das Pärchen vor mir, statt mir die Sicht zu nehmen, die Köpfe zusammengesteckt hätte.
    – In Paris wohnen, aber in einem Haus, das an einer abschüssigen Straße steht. Der Mülleimer vor der Tür, das schmale, holzgetäfelte Treppenhaus, die verschnörkelten Balkongitter.
    – Warum man die handgemachten Effekte, denen man den Bastelcharakter ansieht, als »poetisch« empfindet.
    – Warum einen der für jeden gleich intensive Moment, sein unverändertes Kinderzimmer wieder zu betreten, im Film nicht mehr berührt, weil man ihn schon so oft gesehen hat. Beim ersten Mal wäre man noch begeistert gewesen.
    – Frauen mögen es nicht, wenn Männer weinen. (Wirklich?)
    – Warum erwachsen zu werden immer noch zur Pflicht erklärt wird, wie in bestimmten Berufen, wo die Älteren dafür sorgen, daß es die Neuen nicht einfacher haben als sie damals.
    – Der Moment, wenn man seine neue Flamme zum ersten Mal mit Brille sieht.
    Nachts meine Oderbruch-Geschichte korrigiert, mit der ich es nicht zum letzten Bachmannwettbewerb geschafft habe. Bei Kerzenlicht und mit dem Gewehrpatronenstift aus Sarajevo. Auch wieder in anderer Schrift gedruckt. Alles ziemlich lächerliche Rituale, aber vielleicht hilft es. Der Text muß perfekt sein.
    Die Welt der Guermantes, S. 500–521
    Nun endlich die Höhle des Löwen, der Salon der Madame de Guermantes. Als eine Art Fährmann fungiert Monsieur de Guermantes, der Marcel schon an der Schwelle empfängt, ihm aus dem Mantel hilft und an den wie Höllenhunde im Vorzimmer stehenden Dienern vorbeigeleitet. Über das herzogliche Paar kursieren Scheidungsgerüchte: » Der Herzog war ein so schlechter Ehemann, so brutal sogar, wie es hieß, daß man ihm dankbar war, wie Bösewichtern für eine Anwandlung von Sanftmut, als er die Worte ›Madame de Guermantes‹ aussprach, durch die es so aussah, als breite er schützend die Hände über die Herzogin. « Seine Höflichkeit, auch wenn sie nur gespielt ist, hat etwas Überpersönliches, weil sie als » Ausstrahlung des Hoflebens « auf frühere Jahrhunderte (vor allem das siebzehnte) verweist. » Die Menschen vergangener Zeiten scheinen uns unendlich fern. Wir wagen nicht, bei ihnen tiefe Absichten vorauszusetzen über die hinaus, die sie ausdrücklich äußern; wir sind erstaunt, einer Regung, die ungefähr den unsern gleicht, bei einem Helden von Homer oder in einer geschickten taktischen Finte Hannibals wiederzubegegnen, zum Beispiel, wenn er in der Schlacht bei Cannae seine linke Flanke eindrücken ließ, um den Gegner durch Einschließung zu überrumpeln. Es ist beinahe so, als stellen wir uns beide, den Epiker und den Feldherrn, so entfernt von uns vor wie ein Tier, das wir in einem zoologischen Garten antreffen. «
    Man ist bei alten Werken dann übertrieben dankbar, wenn sie halbwegs etwas mit unserem Leben zu tun haben: » Wir sind so erstaunt, bei Barden der Vorzeit moderne Ideen zu

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