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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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einsamen Sterblichen an der Biegung des Weges sichtbar zu erscheinen, sogar in seinem Zimmer, in das sie, während er schläft, im Türrahmen stehend, ihm ihre Verkündigung tragen. Doch sobald man zu zweit ist, verschwinden sie; Menschen, die stets in Gesellschaft leben, bekommen sie nie zu Gesicht. « Scheußliche Wahrheit, ein erbarmungsloser Urteilsspruch für jeden, der vorhatte, sich durch Schreiben auf die Menschen zuzubewegen.
    Man erreicht das Restaurant. Während Saint-Loup noch mit dem Kutscher verhandelt, macht Marcel sich lächerlich, weil er nicht aus der Drehtür findet. Eigentlich eine Slapsticknummer, aber er gibt ihr eine besondere Note, indem er diese sich in einer Trommel bewegende Tür mit einem Revolver vergleicht (und sich selbst mit einer Kugel, die ins Innere des Raums abgeschossen wird. Was für ein Bild! Wir werden es uns anverwandeln). Der Wirt verkennt ihn natürlich und verweist ihn etwas grob des für die Aristokratie reservierten Raums, um ihn auf einer Bank im großen Saal zu platzieren, vor eine Tür, die ständig auf- und zugeht und Kälte einläßt. Die jungen Aristokraten, die sich hier ihrem Hochmut hingeben, sind übrigens allesamt verschuldet und, da einträgliche Partien rar sind, » richteten insgeheim mehrere ihre Geschütze auf die gleiche eventuelle Braut «.
    Wovon man als Frau träumt, in jeder mißlichen Lage einen Retter zu finden, das leistet Saint-Loup für Marcel, denn kaum hat er das Café betreten, sorgt er schon dafür, daß sein Freund einen angemessenen Platz bekommt und daß die todbringende Zugluft einlassende Tür ein für allemal abgesperrt wird. Schließlich holt er von einem befreundeten Aristokraten einen Mantel, bringt ihn, unter den Augen der staunenden Gäste spektakulär auf der Lehne der Bank balancierend, herbei, bremst » seinen Schwung mit der Exaktheit ab, mit der ein Reitergeneral vor der Tribüne eines Herrschers sein Pferd zum Stehen bringt, und reichte mir höflich ergeben den Vigognemantel, den er gleich darauf, als er neben mir saß, ohne daß ich dabei eine Bewegung zu machen brauchte, als leichten warmen Umhang um meine Schultern breitete «.
    Saint-Loup besitzt eben » Sicherheit des Geschmacks auf der Ebene nicht des Schönen, sondern der Umgangsformen, welche einen Mann von wirklich elegantem Auftreten angesichts einer neuen Situation auf der Stelle – gleich einem Musiker, den man bittet, ein ihm unbekanntes Stück zu spielen – die richtige Empfindung und Gebärde, die sie erfordert, treffen und die Mechanik und Technik anwenden läßt, die hierfür am besten geeignet sind, dann aber auch diesem Geschmack selbst gestattet, sich ohne Beengung durch irgendeine sonstige Überlegung zu betätigen, durch die so viele junge Bürgersöhne sich gehemmt gefühlt hätten sowohl aus Furcht, in den Augen der anderen dadurch lächerlich zu erscheinen, daß sie gegen die Regeln des Anstands verstießen, als aus Besorgnis, in den Augen ihres Freundes übereifrig zu wirken – diese aber wurde bei Robert durch eine Nichtachtung ersetzt, die er nicht eigentlich in seinem Körper trug, da sie die Umgangsformen seiner Vorfahren zu einer Art von vertraulicher Herablassung geschmeidigt hatte, von der diese gemeint hatten, sie müsse unter allen Umständen denjenigen, an die sie sich wendete, schmeicheln und sie entzücken «.
    Der eigenartige Reiz, den es hat, wenn ihres Ranges wirklich sichere Herrschaften auf die Umgangsformen pfeifen. Ich erinnere mich, bei einer Journalistenreise nach Hongkong, die im Anschreiben uns nahegelegte Bitte, in »business attire« zu erscheinen, aus Trotz, und weil ich keinen Anzug besaß, ignoriert zu haben, um mich dann vier Tage lang underdressed zu fühlen. Die Beschämung, als ich am Tag der Abreise im Fahrstuhl dem Direktor dieses eine halbe Milliarde Dollar teuren Hotels begegnete und er mich, angesichts meiner grünen Kutte, fragte, ob es kalt in Berlin sei. Ich war eben nicht souverän darin, gegen die Regeln des Anstands zu verstoßen, sondern wie viele junge Bürgersöhne gehemmt.
    Unklares Inventar:
    – Havelock, Vigognemantel.
    Verlorene Praxis:
    – Mit wütender Miene den Kopf in den Nacken werfen.
    79 . Sa, 7.10., Berlin
    Der Kinobesuch beginnt mit der Übung, dem Strom der aus der vorigen Vorstellung Kommenden standzuhalten, obwohl man in Schweiß ausbricht, weil man die vielen Menschen als Ansteckungsherd empfindet oder auch nur bestimmte Frisuren verachtet oder den reserviert-kennerhaften Blick, mit

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