Schmidt Liest Proust
ich mein Leben noch einmal vor mir ablaufen und kann nachgucken, ob ich mich schon eingeseift hatte.
Und dabei ist mir völlig klar, daß ich diesen elenden Proust-Job, der mich von allem anderen abhält, vermissen werde. Wie gewinnt man Seelenruhe angesichts der unerledigten Aufgaben? Wenn ich für die Lektüre ein halbes Jahr brauche, wie soll ein Student dann vor der Rente die Reife für die Abschlußprüfung erwerben? Zumindest wenn sein Anspruch ist, in allem mindestens so gut wie der Professor informiert zu sein. Vielleicht schafft man es auf biologischem Weg, ein eventuelles Mißverhältnis in der Auffassungsgabe auszugleichen, indem man sich mit hundert von einem Vierzigjährigen prüfen läßt.
Wenn man wenigstens keinen Humor hätte! Dann müßte man nicht auch noch diese vielen hervorragenden Sitcoms sehen. »Curb your Enthusiasm«, eine in den USA erfolgreiche Serie, die sie in Island und Israel zeigen, aber nicht in Deutschland. Der neurotische Autor von »Seinfeld« spielt darin sich selbst. Fünf Staffeln gibt es schon, also sechzehn Stunden, die ich gucken müßte. Um festzustellen, daß der Literatur ständig ihr Stoff entzogen wird, weil Heerscharen talentierter Sitcom-Autoren unseren Alltag nach Material abgrasen. Und warum gibt es diese Serie nicht mit mir in der Hauptrolle? Solche Sachen, wie daß in einem Deli ein Sandwich nach ihm benannt wird, es ihm nicht mal schmeckt, und dann verschluckt sich sein greiser Vater daran und muß ins Krankenhaus. Auch wenn ich die Idee in ihrer konkreten Gestalt nicht hatte, ist sie doch auf einer höheren Ebene unbestreitbar von mir.
Das Gehirn müht sich ab, möglichst viel aufzunehmen, und dabei hat man immer noch von nichts Ahnung. Anstreichungen in Büchern, die ich gelesen habe, sagen mir nichts mehr, ich könnte gleich von vorn anfangen. Sogar die drei Proust-Bände, die jetzt völlig entstellt sind von Bleistiftnotizen, ich müßte mich schon sehr konzentrieren, wenn ich auch nur den groben Handlungsverlauf wiedergeben sollte. Wie kann man sein Studium da jemals als beendet betrachten? Warum muß ich mich dafür schämen, daß ich mich immer noch schriftlich zurückmelde, obwohl ich nicht mehr hingehe, weil ich die Bücher ja zu Hause habe. Der Gedanke, diese letzte Verbindung zum geistigen Erbe der Menschheit zu kappen, ist mir unerträglich. Inzwischen kostet mich das 260 Euro pro Semester, ein stolzer Preis für eine rein virtuelle Beziehung. Ich unterschreibe meine Rückmeldung und schiele dabei, um über die Semesterzahl nicht zu erschrecken. Ich stelle mir vor, wie die alte Dame im Sekretariat bekümmert den Kopf schüttelt, wenn sie meinen Studentenausweis eintütet und zur Post bringt. Ich bin bestimmt einer der letzten Studenten der HU mit einer fünfstelligen Immatrikulationsnummer. Wahrscheinlich hätten sie den Fachbereich ohne mich längst abgewickelt. Die Professoren leistet man sich nur noch, damit ich irgendwann doch noch mein Examen machen kann. Vielleicht werde ich sie von meinem Sterbebett aus endlich zu mir rufen, damit sie mir ihre Fragen stellen können. Dann werde ich ihre Hand halten und wir werden gemeinsam schweigen. Ob ich bestanden habe oder nicht, das zu beurteilen liegt doch gar nicht in unserem Ermessen.
Die Welt der Guermantes, S. 672–694
Immer noch bei Charlus, der » nichts tat, nicht schrieb, nicht malte, nicht einmal auf eine ernsthafte und nachhaltige Weise las «, der aber trotzdem » als Künstler sprach «. Für andere Künstler leistet er dasselbe, wie das Rentier für den Eskimo: » Dies wertvolle Tier frißt für jene von den Felsen der Einöde Flechten und Moose ab, die sie selbst weder entdecken noch nutzbar machen könnten, die aber, vom Ren verdaut, für die Bewohner des äußersten Nordens zu einem verwertbaren Nahrungsmittel werden. « Auf dem Weg zur Tür kann Charlus noch ein paar Worte über sein Palais verlieren, in dem ein Turner zwischen zwei Rembrandts hängt (ich nehme mal an, ein Gemälde und kein Sportler): » Hier, sehen Sie, in diesem Kabinett sind alle Hüte, die Madame Elisabeth, die Prinzessin von Lamballe und die Königin getragen haben. Das interessiert Sie nicht, man sollte meinen, daß Sie gar nichts sehen. Vielleicht ist Ihr Sehnerv erkrankt? « Irgendwo im ersten Stock führen Musiker just in diesem Moment den dritten Satz von Beethovens Pastoralsymphonie auf. Das ist freilich etwas mehr Aufwand, als man gewöhnlich bei seinen Rendezvous betreibt, zu denen Teelichter und ein
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