Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
zu Marcel: » [A]lle diese Leute gehören einer anderen Menschenart an. Man hat nicht ungestraft tausend Jahre Feudalwesen in seinem Blut. « Der Druck, wenn man nicht nur einen berühmten Vater, sondern eine ganzen Stammbaum hinter sich hat. Zum Glück habe ich es aufgegeben, mich für alles, was die Schmidts in ihrer langen Geschichte getan haben, verantwortlich zu fühlen.
    Die Guermantes sind aber so exklusiv, daß Gilbert, der Mann der Prinzessin von Guermantes, es als Makel für ihre Familie ansieht, daß Oriane und ihr Mann sich vom Präsidenten der Republik, also einem Bürgerlichen, haben einladen lassen. » Es war ein Minister da, der gestohlen hatte. « Man darf auch nicht vergessen, daß die Revolution in diesen Familien einige Köpfe gefordert hat.
    Es muß ein eigenartiges Gefühl sein, so eine Familie hinter sich zu spüren. Bei unseren Möglichkeiten der Dokumentation jedes unserer Schritte müßte in tausend Jahren fast jeder Mensch über einen lückenlosen Stammbaum verfügen wie heute nur die ältesten Geschlechter. Und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wird, sofern die Welt ewig besteht, jede Familie einmal den Bundeskanzler stellen, um wie der Herzog sagen zu können, » daß der Großvater des Königs von Schweden noch in Pau seinen Kohl gebaut hat, als wir schon neun Jahrhunderte in ganz Europa ganz obenan gewesen sind «. Man gruselt sich fast, wenn man denkt, daß diese Kreise, die man nur aus den Todesanzeigen der FAZ kennt, nicht ausgestorben sind, sondern ihre Seilschaften immer noch pflegen.
    Manchmal ist die Herzogin ja ganz originell, aber im Grunde doch eiskalt. Sie hat einen Diener, der wegen der Dienstzeiten seine Verlobte nie zu Gesicht bekommt. Nun gehen die Herren zum Kostümball, aber weil sich das Glück darüber, endlich einen Abend Zeit für seine Verlobte zu haben, so überdeutlich auf seinem Gesicht abzeichnet, ein Glück » über das sie gereizt und auf welches sie eifersüchtig war «, befiehlt die Herzogin kurzerhand, daß er doch zu Hause zu bleiben habe, ihr werde vielleicht später noch einfallen, wofür sie ihn brauche.
    Endlich ist auch der Bote mit Nachricht vom todkranken Vetter eingetroffen: » Er ist gerade gekommen, Durchlaucht. Man befürchtet jeden Augenblick das Ableben des Herrn Marquis.
    – Ah! Er lebt! rief der Herzog mit einem Seufzer der Erleichterung aus. «
    Eine ganz eigene Version der Geschichte vom halbvollen Glas.
    Eine Gräfin Molé hat am Morgen, weil sie keine Karte hatte, einfach einen ziemlich großen Briefumschlag mit ihrem Namen darauf abgegeben. Für die Herzogin eine Provokation, denn: » Sie will uns glauben machen, sie habe keine Karte, und dabei gleichzeitig ihre Originalität beweisen. « Sie darf sich auf eine vom Geist der Guermantes inspirierte Reaktion gefaßt machen.
    Auf Seite 708 findet sich der seltene Fall eines Doppelpunkts, der von einer Klammer gefolgt wird: » […] fuhr aber dann umso schneller fort:) Was du da sagst, gilt im übrigen. « Man kann heute gar nicht mehr anders, als diese Kombination als Smiley zu lesen. So verändert die Gegenwart ein Buch aus der Vergangenheit, bis der Autor es nicht mehr wiedererkennen würde.
    Nun will die Herzogin unbedingt noch Swanns » Riesenphotographie « mit den Maltesermünzen auspacken. Ihr Mann drängt zum Aufbruch: » Wenn es in deinem Schlafzimmer hängt, besteht noch die größte Aussicht, daß ich es niemals sehe. « Das Foto hat eine ebenso große Hülle, und jetzt kommt der Herzogin eine Idee, wie sie die provisorische Karte der Gräfin Molé kontern kann: Sie läßt ihr einfach diese riesige Hülle als Karte schicken. Das ist der Geist der Guermantes und selbst der schwerkranke Swann muß lachen.
    Der Herzog sitzt auf Kohlen, weil er immer noch fürchten muß, die Nachricht vom Tod seines Vetters könnte ihm den Abend verderben: » ›Also auf, Oriane, aufs Pferd‹, sagte der Herzog, der bereits seit längerem vor Ungeduld auf der Stelle trabte, als gehöre er selbst zu dem wartenden Gespann. « Aber es kommt zu einer weiteren kleinen Verzögerung, weil die Herzogin Swann drängt, ihr zu erklären, warum er sie nicht nach Venedig begleiten können wird. Worauf er antwortet: » Meine liebe Freundin, weil ich dann schon mehrere Monate tot sein werde. «
    Was für eine Eröffnung! Und wie reagiert man darauf, zwischen Tür und Angel? » Zum ersten Mal in ihrem Leben zwischen zwei so ganz verschiedenen Pflichten stehend wie der, in ihren Wagen zu steigen, um sich zu

Weitere Kostenlose Bücher