Schmidt Liest Proust
gedauert hat. Aber so kurz vor Schluß bekennt er Farbe, es ist nicht nur für uns über weite Strecken eine Qual gewesen: » Jeder der Gäste bei dem Abendessen […] hatte mir den Eindruck so platter Gewöhnlichkeit gemacht wie die Einfahrt des dänischen Hafens Helsingör auf den fieberhaft gespannten Hamlet-Leser. «
Von der Frau des türkischen Gesandten heißt es: » Es wäre unmöglich gewesen, sie auf einer Unkenntnis über die neuesten deutschen Arbeiten zu ertappen, mochten sie nun von Volkswirtschaft, Geisteskrankheiten, den verschiedensten Formen der Onanie oder von der Philosophie Epikurs handeln. « Sie deutet an, der Herzog bevorzuge Jungen statt Mädchen. Ähnliche Hinweise gab es auch schon über Charlus, den Marcel ja im Anschluß gegen elf Uhr besuchen soll. Man möchte ihn als Leser daran erinnern, daß es höchste Zeit ist aufzubrechen, denn von Charlus können wir nicht genug bekommen.
Verlorene Praxis:
– Dem Neffen seinen » kleinen Neger « überlassen.
– Bei seinen Besuchen in der Hocharistokratie in » obskuren Nebenlinien « hängenbleiben.
86 . Sa, 14.10., Berlin
Ich bin gar nicht so ein Langweiler, gestern habe ich zum Beispiel wieder eine Flasche Bier ins Kino geschmuggelt. Viel gespart habe ich nicht, weil ich zum Öffnen ein Feuerzeug kaufen mußte, das aber am Boden eine LED-Leuchte hatte, die sofort herausbrach. Außerdem mußte ich schon nach der Werbung aufs Klo, saß aber in dem großen Saal so weit vorne links, daß es mir zu peinlich war, noch einmal die ganze Strecke zurückzulegen. Das war schon beim Reinkommen peinlich gewesen, weil in dem Moment, wo ich vor den Augen des ganzen Saals vor der Leinwand entlang schlich und meinen Platz suchte, jemand in der Werbung sagte: »Du bist die Zukunft. Alle Augen werden auf dich gerichtet sein!« Um bis zum Schluß durchzuhalten, habe ich das Bier also nicht getrunken und mußte es wieder rausschmuggeln, was bei einer offenen Flasche noch schwieriger ist.
Nach der Werbung kam ein Trailer mit Kirsten Dunst, die tatsächlich aussieht wie A. Da ich A. nicht mehr sehe, wird ihr Gesicht in meinem Gedächtnis irgendwann ganz von Kirsten Dunsts überlagert sein. Es wäre inzwischen auch einfacher für mich, in Kontakt mit Kirsten Dunst zu treten als mit A., was wahrscheinlich meine Schuld ist.
Man muß sich vielleicht von seiner Kinoleidenschaft verabschieden, denn sich mit unbekannten, schlecht riechenden oder sich schlecht benehmenden Menschen in einen Saal zu quetschen, um einen Film zu sehen, den es bald auf DVD geben wird, ist einfach anachronistisch. Diese Demütigung an der Kasse: »Einmal Parkett.« »Dreimal?« »Einmal!« Wie kann man statt »einmal« »dreimal« verstehen? Ich denke, sie machen das mit Absicht, aber ich kann es ihnen auch nicht übelnehmen, es gibt eben Tätigkeiten, die sich nur durch das Ausleben sadistischer Neigungen ertragen lassen.
Die einfältige Bildästhetik des Mainstream-Kinos, die verrottete Dramaturgie, was mich, weil es nicht nach DEFA aussah, in den frühen Achtzigern noch so begeistert hat, daß ich zweimal hintereinander nach Prag fuhr, um »Flashdance« zu sehen, obwohl der Film auf Englisch lief.
Und diese verlogene Metaerzählung über das harte Leben der Kapitalisten: »Sag Bescheid, wenn dein Privatleben den Bach runter ist, dann wird es Zeit für eine Beförderung.« Selbstausbeutung und Rücksichtslosigkeit gegen jeden Konkurrenten führen zu den besten Resultaten. Ein Märchen, an das ich nicht mehr glaube, seit ich im Westen lebe.
Immerhin ein interessantes Detail die Erklärung, wie eine Farbe, von den Haute-Couture-Designern ins Spiel gebracht, sich am Ende bis zu den Wühltischen durchsetzt, quasi eine Trickle-down-Theorie der Mode. Aber man hat es satt, sich die wenigen Gedanken aus Filmen herausfiltern zu müssen, da gucke ich lieber Alexander Kluge.
Ich wünsche mir einmal einen Film, der nur die Szenen zusammenschneidet, in denen jemand aufwacht, langsam zu sich kommt, den Wekker sieht und hastig in seine Sachen springt, wobei er beim Hoseanziehen hinfällt. Und einen Film, nur aus der Szene, wenn eine Frau mit ihrem Freund ein ernstes Gespräch über ihre von ihrer Karriere gefährdete Beziehung führt, im gleichen Moment ihr Chef anruft und sie sich für den Anruf entscheidet, statt für ihren sich enttäuscht abwendenden Freund. Ein anderer Film könnte nur aus dem Satz bestehen: »Es tut mir leid.« Ich weiß gar nicht, ob es schon einmal einen amerikanischen
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