Schmidt Liest Proust

zu geben: ›Vergessen Sie mich nicht‹? «
    Vielleicht ist diese ganze Szene auch inszeniert. Jedes Zugeständnis kleidet er in eine Beleidigung, » daß ich über ein Verhalten nur gelächelt habe, das man als Unverschämtheit bezeichnen könnte, wenn es in Ihrer Macht läge, mir gegenüber, der ich so hoch über Ihnen stehe, solche zu betätigen «.
    Sie kennen sich noch gar nicht, aber Charlus erklärt die Bekanntschaft schon für beendet, weil Marcel versagt habe. Unter Tränen erklärt er, daß er mit ihm doch so viel vorhatte. » Ich werde Ihren Namen vergessen, nicht aber Ihren Fall, damit ich an Tagen, da ich versucht sein könnte zu glauben, daß Menschen über Herz und Höflichkeit oder auch nur über so viel Klugheit verfügen, daß sie sich eine unvergleichliche Chance nicht entgehen lassen, mich daran erinnere, wie sehr ich sie damit überschätze. « Von welchem Verrat ist die Rede? » Glauben Sie, der giftige Speichel von fünfhundert kleinen Kerlen, wie Sie, selbst wenn sie sich aufeinanderhocken, könne auch nur meine erhabenen Zehen berühren? «
    Und es kommt zu einer bemerkenswerten Reaktion des gedemütigten Marcel, der diesen Besuch doch mit so großen Erwartungen angetreten hatte, » so stürzte ich mich denn auf den neuen Zylinderhut des Barons, schleuderte ihn zu Boden, trampelte darauf herum und ließ nicht locker, bis ich ihn völlig zerfetzt hatte; ich riß den Kopf heraus und zerbrach die Krempe, ohne auf das wütende Gebrüll von Monsieur de Charlus zu hören, das immer noch weiterging «.
    So reagiert eigentlich niemand, der tausendachthundert Seiten lang fast ausschließlich beobachtet und reflektiert.
    Ein neuer Hut wird sofort gebracht. Charlus begleitet Marcel zur Tür. »Sie sollten wenigstens so viel Klugheit besitzen, eine letzte Unterhaltung zu einer Bemerkung zu nutzen, die nicht absolut gegenstandslos ist.« Den Satz merken wir uns für unser letztes Gespräch mit der nächsten Ex-Freundin in spe.
    Unklares Inventar:
    – Modern-Style-Möbel, Boulle-Möbel, bei » Bing « gekaufte Möbel, Sankt-Josephs-Krawatten.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » […] setzte er in schmeichelndem Ton [hinzu], der immer fragwürdiger wurde und zuletzt wie ein hinterhältiges Lächeln auf seinen Lippen schwebte. «
    Verschollenes Wissen:
    – Wenn eine Hoheit anwesend ist, darf man eine Gesellschaft erst nach ihr verlassen.
    Verlorene Praxis:
    – Die Orchideengirlande an seiner Brust zurechtzupfen.
    – Seinen » kleinen Diener « ausschicken, auf der Stelle ein Exemplar von Hugos »Feuilles d’Automne« zu kaufen.
    87 . So, 15.10., Berlin
    Seit Odessa hinke ich mit dem Übertragen der Notizen aus meinem Moleskine hinterher. Ich hatte schon einmal bis auf eine Woche aufgeschlossen, dann lag ich schnell wieder einen Monat zurück. Je mehr man aufschreibt, umso mehr Interessantes fällt einem auf. Ich fürchte, ich werde sogar noch auf dem Sterbebett, nachdem ich meine letzten Worte gesagt habe, irgend etwas notieren wollen. Vielleicht meine letzten Worte, weil die Schwester gerade telefonieren war. Schreckliche Vorstellung, vor dieser wichtigen Notiz zu versagen. Ganz zu schweigen vom Begräbnis, es ist einfach absurd, daß man nach all diesen quälenden Pflichtveranstaltungen im Leben ausgerechnet davon nichts mitbekommen soll.
    Man muß sich von der Idee der vollständigen Dokumentation verabschieden. Meine Liste mit Kinobesuchen bricht irgendwann vor sechs Jahren ab, obwohl ich immer noch alle Eintrittskarten in einer Schachtel sammle für den Fall, daß ich mich einmal aufraffen sollte, die Liste zu vervollständigen. Im Moment führe ich nur noch Buch über Auftritte, Publikationen, Gewicht (morgens, vor Sport, nach Sport, abends), Liegestütze und Klimmzüge, gelesene Bücher, verborgte Bücher, am Sonnabend gekochte Gerichte. Ein- und Ausgaben zu notieren habe ich Mitte der Neunziger aufgegeben, Friseurbesuche vor fünf Jahren, die Liste »Erster Heiztag im Jahr« verbummle ich immer und fange deshalb jedes Jahr eine neue an. Mathematisch gesehen ist ja ein Eintrag eine Liste mit einem Element.
    Ich habe schon mehrfach ganze Textpassagen doppelt geschrieben, weil ich vergessen hatte, daß ich sie schon einmal geschrieben hatte, genauso wie ich mich beim Duschen immer öfter nicht erinnern kann, ob ich mich schon eingeseift hatte. Ich müßte eine Kamera auf mich richten, dann könnte ich zurückspulen und mich vergewissern. Oder ich stürze mich aus dem Fenster, dann sehe