Schmidt Liest Proust
damit man vor seinen Kindern stirbt. Der einzige Moment am Tag, wo ich mich etwas frischer fühle, ist nach dem Mittagsschlaf, und momentan ist es danach meistens schon dunkel, was den Effekt sofort wieder aufhebt.
Während im Radio Eltern über die Trotzanfälle ihrer Kinder berichten, die ein gutes Zeichen seien und wichtig für deren Entwicklung, suche ich in meinem Gedächtnis nach dem Namen und zwischen den Zettelbergen auf meinem Tisch nach dem Zettel mit dem Namen dieses Redakteurs, bei dem ich mich melden muß, seit das zu rezensierende Buch, das er mir geschickt hat, wieder zurück an die Redaktion gegangen ist, weil die Annahmestelle dieses obskuren Paketdienstes irgendwo im nördlichen Wedding lag, also weiter entfernt als die Redaktion selbst, und für mich innerhalb der Wochenfrist nicht zu erreichen. Die Suche nach dem Zettel, dessen Existenz ich nur vermuten kann, kostet mich den halben Vormittag. Solche Dinge belasten einen, sogar wenn man nicht daran denkt. Jedesmal, wenn mich jemand anruft, um mir einen der für mich lebenswichtigen Aufträge anzubieten, stöhne ich innerlich auf und sage sofort zu, um dann zu leiden, als hätte ich mich freiwillig zur Hinrichtung gemeldet, so wie bei dem Nachruf, den ich schon seit drei Wochen schreiben soll, ohne auch nur die Hinterbliebenen kontaktiert zu haben. Hoffentlich erinnern sie sich noch an den Verstorbenen, wenn ich endlich so weit bin.
Der Stapel Bücher, die ich gekauft habe und nicht einsortieren kann, weil ich sie dann nie wieder ansehen werde: »Das Erdbeben von Lissabon«, eine Inge-Müller-Biographie, Nicholson Baker »Eine Schachtel Streichhölzer«, Aufsätze zu Einstein. Vielleicht kann ich das alles unauffällig wieder auf den Wühltisch schmuggeln, dann muß ich es nicht lesen? Die Zettelberge, über ein Jahr Tagespläne und schnell hingekritzelte Telefonnummern ohne Namen, was prüfende Anrufe riskant macht. Ganz unten unter russischen und rumänischen Zeitungen und mittlerweile drei dicken Briefen der BfA mit der Bitte um Rentenkontoklärung das Programm der letzten Berlinale, das ich ohne Bedenken wegwerfen kann. Für solche Erfolgserlebnisse beim Aufräumen sollte man immer ein paar überflüssige Sachen vorrätig haben. Aber wo ist die Rechnung über 1 000 Euro, die wir ans »Ballhaus Ost« für die letzte Brillenschlangenparty zahlen müssen, weil sie von ihrer Seite her alles dafür getan hatten, daß die Party unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand? Einfach die Mahnung abwarten?
Diese ewige Müdigkeit, wann waren meine Augen mal nicht entzündet? Ich hab noch gar nichts gefrühstückt, und jetzt ist schon wieder Mittagszeit. Den halben Vormittag bin ich online gewesen, um den Moment der Einschreibung für den Latinumkurs nicht zu verpassen, dann habe ich um Punkt 13.00 Uhr geklickt um festzustellen, daß die Einschreibung erst morgen ist. Zum Glück bin ich nicht extra ins Rechenzentrum gefahren, wie mir geraten wurde, weil man wegen der schnelleren Verbindung von dort die besten Chancen hätte, bei der Online-Buchung einen Platz zu ergattern. Zweimal mußte ich schon wieder gehen, weil der Kurs zu voll war und gelost wurde. Und dabei weiß ich gar nicht, wie das werden soll, wenn ich jetzt auch noch Latein machen muß, ich schaffe es ja aus Zeitgründen schon nicht mal mehr, mich morgens anzuziehen und laufe den ganzen Tag bibbernd in ein Handtuch gehüllt durch die Wohnung.
Und seit gestern müßte ich wieder Wollsocken überziehen, weil meine Füße frieren. Meine ganze Kindheit über habe ich nie das Bedürfnis empfunden, Hausschuhe zu tragen, war es im Plattenbau so warm? Damals war eben noch alles gut, auch wenn wir nur Schwarz-Weiß hatten. Ich sollte froh sein, daß ich mich überhaupt noch so tief bücken kann und bei den Socken keine Hilfe brauche, aber Dankbarkeit war noch nie meine Stärke.
Und über die schlimmsten Sachen, die einem am meisten zusetzen, kann man hier gar nicht berichten, weil sie entweder unappetitlich sind oder zu privat. Irgend etwas Aufmunterndes muß heute noch passieren, sonst gehen hier bald die Lichter aus.
Die Welt der Guermantes, S. 694–714 (Schluß)
Der Herzog läßt Swann seinen vermeintlichen Velazquez begutachten und will wissen, wem er ihn zuschreibt: » Swann zögerte einen Augenblick beim Anblick dieses Bildes, das er offenbar scheußlich fand. ›Der Bosheit‹, gab er lachend dem Herzog zur Antwort, der eine Regung der Wut nicht ganz unterdrücken konnte. « Swann sagt
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