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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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einer Dinereinladung zu begeben, und der, einem Sterbenden Mitleid zu bezeigen, fand sie in ihrem Kodex des richtigen Verhaltens keine Regel, die sie anwenden konnte. « Beider Höflichkeiten blockieren sich: Swann möchte sie nicht aufhalten. » Aber auch die Höflichkeit der Herzogin gestattete ihr, undeutlich zu spüren, daß das Diner, zu dem sie ging, für Swann wohl weniger zählen mochte als sein eigener Tod. « Immerhin! Die einzige Lösung ist, Zuversicht anzumahnen und die Nachricht herunterzuspielen, Ärzte sind schließlich allesamt Dummköpfe. Der Herzog duldet keinen weiteren Aufschub, Swanns Tod muß warten. Doch im letzten Moment entdeckt er, daß Oriane zu ihrem schwarzen Kleid rote Schuhe trägt. Das geht dann doch nicht, soviel Zeit muß sein, man nimmt die Verzögerung in Kauf und läßt nach den schwarzen Schuhen schicken.
    Wenn das keine Akzentuierung von Walter Benjamins schöner Einsicht ist: »Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer das gleiche: Der Tod.« Und für die meisten Menschen ist diese Neuigkeit nur der eigene Tod.
    Wie schön, daß der Schluß dieses Buchs Swann gewidmet ist, der darin bisher gar nicht aufgetaucht war. Seine Noblesse, sein Kunstverstand, sein verhindertes Künstlertum. Dagegen die Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit der mondänen Gesellschaft, die eine einzige Verdrängungsmaschinerie ist. Was die Charakterisierung unserer Zeit als »Spaßgesellschaft« noch lächerlicher macht, weil das, was mit diesem Begriff gemeint sein soll, offenbar noch keiner Zeit gefehlt hat.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » […] sagte der Herzog, indem er auf Swann den Blick zugleich eines Inquisitors und eines Folterers warf, da er gleichzeitig in seinen Gedanken lesen und seine Antwort in eine bestimmte Richtung zwängen wollte. «

4. Buch
Sodom und Gomorra
    89 . Di, 17.10., Berlin
    In einem Zeitungsartikel wurden Zählzwang, Sammelzwang, Wiederholungszwang und Ordnungszwang erwähnt. Also:
    1. Zählzwang
    2. Wiederholungszwang
    3. Ordnungszwang
    4. Sammelzwang
    Das ginge natürlich auch alphabetisch:
    1. Ordnungszwang
    2. Sammelzwang
    3. Wiederholungszwang
    4. Zählzwang
    Oder lieber nach Wortlänge, das sieht ordentlicher aus:
    1. Zählzwang
    2. Sammelzwang
    3. Ordnungszwang
    4. Wiederholungszwang
    Habe ich einen vergessen? Ich gucke lieber nochmal, wäre doch schön, wenn es noch mehr gäbe. Aha, gut, daß ich nochmal geguckt habe: »Psychosoziale Kontrollzwänge« hatte ich übersehen. Also nochmal von vorn (hoffentlich kriegt keiner mit, was ich hier mache):
    1. Zählzwang
    2. Sammelzwang
    3. Ordnungszwang
    4. Wiederholungszwang
    5. Psychosoziale Kontrollzwänge
    So macht es Spaß, alles perfekt. Also gleich nochmal eintippen, ein bißchen Zeit hab ich ja noch, bevor ich zur Gruppenarbeit muß:
    1. Zählzwang
    2. Sammelzwang
    3. Ordnungszwang
    4. Wiederholungszwang
    5. Psychosoziale Kontrollzwänge
    Einmal kann ich noch, bevor ich los muß. Aber ich muß mir auch noch die Hände waschen. Und wenn ich einmal darauf verzichte? Es zwingt mich ja keiner. Andererseits geht es ja ganz schnell. Aber die beiden Seifenstücke sind gerade genau gleich groß, das krieg ich nie wieder so hin.
    Sodom und Gomorra, S. 1–28
    Ein etwas dubioses Verfahren: Zu Beginn des neuen Bands wird eine Begebenheit nachgeliefert, die Marcels Besuch bei Charlus doch in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Denn bevor er zu den Guermantes gegangen war, hatte er auf Beobachtungsposten im Hausflur nicht nur die schöne Hinterhoflandschaft genossen, sondern er ist, wie wir nun erfahren, auch Zeuge einer verstörenden und erhellenden Szene geworden. Marcel hatte Charlus gesehen, der von einer Krankenvisite bei Madame de Villeparisis kam und den Hof überquerte. Er machte sonst nie um diese Zeit Besuche, er war nur hier, weil die Madame krank war. Das folgende steht also ganz im Zeichen des Zufalls. Charlus, » dicklich, bei hellem Tageslicht sichtlich gealtert und mit ergrauendem Haar «, der sonst immer solchen Wert auf seinen Schneid legt und alle anderen viel zu weibisch findet, wirkt plötzlich, da er sich unbeobachtet wähnt, wie eine Frau.
    Er begegnet dem Schneider Jupien, und wie die seltene Blüte zur Fortpflanzung das noch seltenere Insekt braucht, erkennen sich die beiden sofort. Charlus, der » die Lider weit öffnete «, und Jupien, der » wie angenagelt, ja pflanzengleich angewurzelt stehenblieb «. So führen sie eine »

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