Schmidt Liest Proust
Doppelpantomime « auf. Charlus legt in seine Blicke, in der Art der Beethovenschen Motive, ein » dringliches Heischen «. Schnell » schien der Bund geschlossen und dies nutzlose Blickgeplänkel nur ein rituelles Vorspiel zu sein «. Das Männchen Charlus hat den ersten Schritt getan, und das Weibchen Jupien behält das Männchen im Auge, ohne zu handeln, weil es das » wahrscheinlich für um so betörender und einzig zweckmäßig hielt und sich einfach nur die Federn glättete «. Durch Zufall ist der ältere Herr Charlus in Jupien an einen Menschen geraten, » der vom Schicksal im voraus ausersehen ist, damit auch diese ihren Anteil an den Wonnen der Erde erhalten: den Mann, der einzig die alten Herren liebt «. Natürlich begreift Marcel das alles erst viel später, » so sehr steht der Wirklichkeit die Fähigkeit zu Gebote, sich unsichtbar zu machen «.
Die beiden verschwinden in Jupiens Werkstatt, und Marcel pirscht sich in fast schon leichtsinniger Weise heran, wobei sich seine Lektüren von Berichten über Forschungsexpeditionen auszahlen. » Wenn Anfälle mich gezwungen hatten, mehrere Tage und Nächte nacheinander nicht nur schlaflos zu verbringen, sondern auch ohne daß ich mich ausstrecken, Nahrung zu mir nehmen oder etwas trinken konnte, dachte ich, wenn Erschöpfung und Leiden mir derart zusetzen, daß ich kein Ende abzusehen meinte, an irgendeinen Reisenden, der ans Gestade geworfen wird, wo er, von unzuträglichen Kräutern vergiftet, in seinen vom Meerwasser getränkten Kleidern unter Fieberschauern erbebt, sich aber dennoch nach zwei Tagen besser fühlt und seinen Weg ins Ungewisse fortsetzt auf der Suche nach Bewohnern, die vielleicht Menschenfresser sind. «
Marcel hört aus dem Nachbarraum unartikulierte Laute. Man hätte » meinen können, neben mir erwürge eine Person eine andere, hinterher aber nähmen der Mörder und sein wiedererstandenes Opfer ein Bad, um die Spuren des Verbrechens gründlich abzuwaschen «. Die Folge dessen, was sich dort abspielt, schließt er, muß in jedem Fall » unmittelbares Bedachtsein auf Säuberung « sein.
Nachdem sie wieder ans Licht getreten sind, erkundigt sich Charlus etwas unsensibel bei Jupien nach Brüdern im Geiste aus der Nachbarschaft. Er sucht noch einen Omnibusschaffner, der ihm die Langeweile auf den langen Fahrten nehmen könnte, die er manchmal unternimmt, wenn er einem Unbekannten unbemerkt in eine entlegene Gegend folgt. Wenn diese Person umsteigt, » ergattere ich vielleicht gleichzeitig mit einer Ladung Pestmikroben diese unmögliche Sache, die man als ›Anschluß‹ bezeichnet, eine Nummer der Straßenbahn und, obwohl für meine Person bestimmt, nicht einmal Nummer eins! « Richtig, das war mir noch nie aufgefallen, daß man ständig Bahnen und Busse niederen Rangs benutzt. In Zukunft steige ich in jeder Stadt nur noch in die Linie 1!
Charlus erklärt Jupien, was er bei den jungen Männern sucht. Nicht physisch wird er sie berühren, sondern seelisch: » Wenn ein junger Mann erst einmal, anstatt meine Briefe unbeantwortet zu lassen, mir unaufhörlich schreibt, mir psychisch völlig hörig geworden ist, habe ich meine Ruhe oder vielmehr hätte sie, wenn ich nicht sehr bald von einem anderen in Anspruch genommen würde. « Im Moment habe ihm ein seltsamer Bursche den Kopf verdreht: » Er hat gar kein Gefühl dafür, was für eine eminente Persönlichkeit ich bin und was für ein mikroskopisches Urtierchen er selbst im Vergleich dazu ist. « Das ist der Stoff für narzißtische Kränkungen, und der unhöfliche junge Bürgerliche Marcel dürfte aufhorchen. Tatsächlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, und es erklärt sich » rückblickend auch der jähe Wechsel in seinen Beziehungen zu mir «. Aber woher weiß er überhaupt, wovon die Rede ist? Etwa auch aus den Expeditionsberichten, die er gelesen hat? Ich hoffe, ich werde hier in den nächsten Wochen nicht gezwungen sein, Dinge zu kolportieren, für die mir noch die Worte fehlen.
Verschollenes Wissen:
– Die Kathedrale von Orléans ist die häßlichste von ganz Frankreich (Baron de Charlus).
Verlorene Praxis:
– Während der Renovierung seines Stadthauses, um Eifersucht zwischen den Herzoginnen zu vermeiden, die sich die Ehre streitig machen, einen bei sich zu beherbergen, ein paar Tage in einem Hotel logieren.
90 . Mi, 18.10., Berlin
Vieles, was man heute nicht mehr beachtet, hat man doch in der Kindheit als Wunder empfunden:
Halbe Regenwürmer. Straßenschach.
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