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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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anderen empört zurück. Der Einsiedler » hat kein anderes Vergnügen, als sich in das benachbarte Seebad zu begeben und dort einen bestimmten Eisenbahnbeamten um Auskunft zu bitten «. Das soll ein Ersatz sein für Spiele von einst in der Mondnacht am Kreuzweg auf Gras? Er pflegt, auf dem Bahnsteig stehend, einen » scheinbar gleichgültigen, zerstreuten, ja verächtlichen Blick «, der aber » den fast unauffindbaren Liebhaber eines speziellen, zu schwer unterzubringenden Vergnügens, das hier angeboten wird, dennoch nicht täuschen würde «. Wahrscheinlich ist das mein Fehler, ich gucke zu oft zerstreut und verächtlich, jedenfalls fühlen sich davon immer wieder Liebhaber eines schwer unterzubringenden Vergnügens angesprochen.
    Ein Westenmacher und ein korpulenter Fünfzigjähriger finden sich, deren Liebe » etwas wahrhaft Prädestiniertes ist, vorbereitet durch die Übereinstimmung ihrer Temperamente, und sogar nicht einmal nur ihrer eigenen Temperamente, sondern schon durch die ihrer Vorfahren, durch eine von weit her überkommene Erbschaft, so daß das Wesen, das sich mit ihnen vereint, ihnen schon vor der Geburt angehört und sie angezogen hat durch eine Macht, vergleichbar der, welche die Welten regiert, die der Schauplatz unserer früheren Existenzen gewesen sind «. Für Marcel scheint durch das Wunder solcher Zufälle an der beobachteten Begegnung von Charlus und Jupien » alles in Schönheit getaucht «.
    » Manchmal […] fand die Befriedigung in Gestalt einer heftigen Strafpredigt statt, welche der Baron dem Besucher ins Gesicht schleuderte, so wie manche Blüten dank einer Schnellkraft in ihrem Innern aus einer gewissen Entfernung das Insekt bestäuben, das dadurch unbewußt ihr verblüffter Partner wird. « Erinnert mich an die Geschichte, die sie mir neulich erzählt hat, daß man in diesem einen Berliner Club nicht allein aufs Klo gehen solle, weil man sonst »bestäubt« werde. Sicher auch verblüffend.
    Unklares Inventar:
    – Griseldis, » bei Potin « kaufen, Lythrum salicaria, Komposit.
    Verlorene Praxis:
    – In einer mondlosen Nacht an einem Kreuzweg einen Kindheitsfreund treffen, der ein benachbartes Schloß bewohnt.
    – Sich, um sich aufzuwärmen, im Collège de France die Vorlesung anhören, die der Sanskritprofessor dort ohne Auditorium abhält.
    – Als Frau scheinbar eine Auslage von Schuhen hinter einer Schaufensterscheibe betrachten, dabei aber den Kopf nach einem Studenten umwenden.
    – Beharrlich und erfolglos den Abhang wieder erklimmen, den hinabzugleiten man in seiner Jugend so amüsant fand.
    91 . Do, 19.10., Berlin
    Im Kindergarten war ich wieder neidisch, als ich den Wochenspeiseplan las: »Tomatennudeln mit Reibekäse und Saftschorle«, »Serbische Reispfanne mit Buttermilch«, »Arabisches Reiterfleisch«, »Straußengulasch mit Apfelrotkohl und Petersilienkartoffeln«, »Erbseneintopf«, »Milchnudeln und Früchtecocktail«, »Gebratenes Seelachsfilet mit Eisbergsalat und Kartoffelpüree«.
    Jeden Tag etwas anderes und fast immer drei Komponenten, ein Standard, den ich zu Hause noch nicht durchsetzen konnte, weil ich ja selber kochen müßte. Bei mir gab es wieder gebratene Zwiebeln mit einer Dose Tomatenfisch und als Nachtisch ein Hustenbonbon.
    Auf der Heimfahrt einen weiteren Datenschatz ausgemacht, den bisher noch niemand sichert: Wann, wo und von wem man auf der Straße nach dem Weg zu einer anderen oder sogar (seltener) der Stelle, an der man sich befindet, gefragt wurde. Mich haben mal in Tschernjachowsk, als ich gerade eine Kirche fotografierte, zwei russische Polizisten nach dem Weg zum Gerichtsgebäude gefragt. Heute, etwas weniger aufregend, Schönhauser/Ecke Wörther, zwei Sieben-Tage-Bart-Träger mit Pilotenbrille: »Der Helmholtzplatz, wo isn der?« Es wirkte fast, als machten sie mich dafür verantwortlich, daß der Helmholtzplatz so weit entfernt war. Wenn alle Menschen diese Auskunftsdaten zusammentragen würden, könnte man eine Suchanfragen-Top-Ten erstellen: »Die am häufigsten nicht gefundenen Orte der Welt«.
    Die Zeitung übertrifft sich mal wieder selbst: »Anwohner fordern breitere Zufahrtsstraße.« In einer Zeitung, die nur für die Anwohner dieser schwer zugänglichen Straße produziert würde, wäre das sicher eine Topmeldung gewesen, in der Berliner Zeitung war es immerhin eine Meldung. Noch bekommt ja nicht jeder seine eigene Zeitung mit den für ihn wichtigsten Meldungen konfiguriert. Warum lesen sich Menschen freiwillig und für Geld

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