Schmidt Liest Proust
der sinkenden Tagestemperaturen immer unwahrscheinlicher wird) und nach Neukölln zu tragen, könnte ich sie nicht unter dem Fleck aufstellen, denn dort ist ja schon mein Kopfkissen. Das Kopfkissen gehört zu einem Wasserbett, und ein Wasserbett ist eine Immobilie. Eventuell müsste man zuerst das Wasser aus dem Wasserbett ablassen, was gar nicht schaden könnte, denn da ich viel zu selten daran denke, das vorgeschriebene Desinfektionsmittel hineinzugeben, ist das Bett mit einer trüben, rötlichen Algenbrühe gefüllt. Allerdings braucht man einen Schlauch und eine Pumpe, um das Wasserbett auszuleeren. Der Wasserfleck hat die Form von Frankreich. Bald wird er auch die Größe von Frankreich haben.
Ich beschließe, gar nicht erst aufzustehen. Meine derzeitige Lage, gesandwicht zwischen Schimmelpilzen und Algen, bietet die besten Voraussetzungen für eine künstlerisch fruchtbare Schwermut. Wenn ich die Duden-Regeln 72, 82 und 112 konsequent mit Füßen trete, wird schon bald niemand mehr einen Unterschied zwischen mir und Jochen Schmidt feststellen können.
Sodom und Gomorra, S. 191–210
Die verschiedenen Salons werden ausführlich gegeneinander abgewogen. Lebe ich in so viel einfacheren Zeiten, oder entgehen mir nur im Unterschied zu Proust die Feinheiten des gesellschaftlichen Umgangs? Vielleicht sollte man seltener unüberlegt bei anderen erscheinen, man wird dadurch schließlich » selbst eine andere «. Attraktiv an den Salons: Es gibt eine festgelegte Zeit, zu der die Gäste wieder gehen müssen: Madame Swann zum Beispiel empfängt im Winter von sechs bis sieben Uhr.
Zu Madame de Montmorency geht Marcel offenbar nur wegen einer Statuette, dem großen, feuchten, hallenden, echoerfüllten Treppenhaus, den mit Zinerarien gefüllten Vasen im Vorzimmer und dem Scheppern eines Glöckchens. Nur in einer Existenz des vollkommenen Müßiggangs kann man dem Scheppern der Glöckchen die Aufmerksamkeit widmen, die es verdient. Man sollte viel weniger arbeiten, der Meinung war auch Thoreau, der ganze Tage untätig auf seiner Türschwelle herumsaß: » There were times when I could not afford to sacrifice the bloom of the present moment to any work, whether of the head or hands. « Vielleicht waren die diversen Revolutionsbestrebungen, die Reichen zur Arbeit anzuhalten, verfehlt, und man müsste sie statt dessen zu konsequentestem Müßiggang zwingen. Ich notiere das mal für die Zeit meiner kommenden Schreckensherrschaft über Deutschland.
Jetzt geht es wieder nach Balbec. Anscheinend sind seit dem letzten Aufenthalt zwei Jahre verstrichen, eins davon muss ich verpasst haben, und alles Zurückblättern bleibt fruchtlos. Auf der Suche nach Prousts verlorener Zeit, eine neue Metaebene. Der Hoteldirektor überschlägt sich diesmal vor Zuvorkommenheit, aber: » Je mehr neue Sprachen er lernte, desto schlechter sprach er die früheren. « Es folgen seitenweise Beispiele für die Fehler des Hoteldirektors, die einen besserwisserischen Beigeschmack haben, insbesondere dort, wo sie noch extra erläutert werden: » Er bringt uns wirklich zu sehr unter die Kutte (er meinte Knute) der Deutschen. « Gehen wir zu Prousts Gunsten davon aus, dass hier nur der Erzähler in ein ungünstiges Licht gerückt werden soll.
Beim letzten Aufenthalt hatte Marcel in Balbec einen von Nebel durchwogten Ort gesucht, diesmal kehrt er zurück, weil er einen strahlendhellen Ort wiederfinden will, beides erweist sich als trügerisch: » Die Bilder, welche die Erinnerung auswählt, sind ebenso willkürlich, ebenso enggefaßt, ebenso ungreifbar wie die, welche die Einbildungskraft gestattet und die Wirklichkeit dann zerschlagen hat. Es besteht kein Grund, weshalb ein wirklicher Ort außerhalb von uns mehr Bilder der Erinnerung als des Traums in sich enthalten soll. «
Er ist unter anderem wieder dort, weil die Verdurins eines der Cambremerschen Schlösser für den Sommer gemietet haben. Es ist immer unangenehm, nicht zu wissen, wie man Gelesenes aussprechen soll, und sei es nur in Gedanken. Was tun mit den Cambremerschen Schlössern? Vielleicht einfach auf die klassische Kindertechnik zurückgreifen: Bei der Erstlektüre von »Krieg der Knöpfe« hießen meine Helden schließlich auch noch Lehbrack und La Krique. Für die schwere Handhabbarkeit der Cambremerschen Schlösser entschädigt aber der Name der Mietsache: La Raspelière. Wenn in der Langnese-Entwicklungsabteilung jemand bei Trost wäre, hätten wir statt »Cremissimo« und »Schmeckerfatz«
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