Schmidt Liest Proust
in Verlegenheit zu bringen.
Er erhöht noch einmal den Einsatz, er wolle sie nicht nur heute Abend nicht mehr sehen, sondern » jetzt habe ich diesen Abend durch dich verloren, laß mich wenigstens die nächsten Tage in Ruhe «. In zwei bis drei Wochen habe er vielleicht wieder Zeit für sie. Allerdings wäre es natürlich traurig, sich im Unfrieden für so lange Zeit zu trennen, also, vielleicht könne sie ja doch noch schnell vorbeikommen, obwohl er eigentlich zu müde ist.
Das alles ist nur ein Vorgeschmack auf das, was ihm mit Albertine bevorsteht, das spürt er. Als sie eintritt, tut er so, als müsse er einen Brief schreiben. » An eine hübsche Freundin, ihr Name ist Gilberte Swann. Kennst du sie nicht? « Er ist gut beraten, das heute Vorgefallene erst einmal nicht weiter zu diskutieren: » Ich wußte, ich würde ihr sonst Vorwürfe machen, und fürchtete, wir würden dann in Anbetracht der späten Stunde keine Zeit haben, uns hinlänglich auszusöhnen, um auch noch zu Küssen und Zärtlichkeiten überzugehen. Mit ihnen wollte ich daher gleich in der ersten Minute beginnen. «
Eine Achatkugel von Gilberte, die mit seinem Interesse an dieser ihre fetischhafte Macht eingebüßt hat, überläßt er ohne weiteres Albertine. Später trinken sie kühlen Orangensaft, der ihm fast noch besser schmeckt als ihre Küsse.
Im weiteren folgt die Beschreibung vom Aufstieg und Niedergang bestimmter Salons, wie zum Beispiel Odette es geschafft hat, mit dem ihren Orianes zu übertrumpfen, denn die Salons haben ihre Biographie. Man kann schon Erfolg haben, nur weil man neu ist. » So findet sich jede Epoche in neuen Frauen, in einer neuen Gruppe von Frauen personifiziert, die, aufs engste mit den letztaufgetauchten Gegenständen der Neugier verknüpft, in ihren Toiletten einzig und gerade in diesem Augenblick wie eine unbekannte Gattung erscheinen, die aus der jüngsten Weltkatastrophe hervorgegangen ist. « – Und welche Frau personifiziert unsere Epoche?
98 . Do, 26.10., Berlin
»Allein machen sie dich ein«, der Song klingt mir immer noch im Ohr und ruft mich regelmäßig aus meiner selbstgewählten Isolation zurück in die Arme des Kollektivs. Warum immer alles alleine machen? Man muß delegieren können, sonst wäre Jesus nie für uns gestorben. Deutschland steckt voller großartiger, hilfsbereiter Autoren. Heute habe ich mir einen Gastbeitrag von Kathrin Passig gewünscht, und sie hat sich nach tausend Ausflüchten sofort einverstanden erklärt. Ich mußte ihr nur versprechen, dafür ihr nächstes Buch zu schreiben, und das war es mir natürlich wert.
Schon frühmorgens fühle ich mich angesichts der Aufgabe, heute Jochen Schmidt zu sein, mutlos und überfordert. Ein guter Anfang, das geht dem echten Schmidt sicher genauso. Mit dem Frühaufstehen fängt es schon an, denn anders als ich ist Schmidt ein disziplinierter Kulturschaffender; vermutlich folgt dann ein Tag voller Liegestütze und Empfindsamkeiten. Aber ich habe einen Startvorteil: Ich kann viel schneller lesen als Schmidt und daher das Proust-Pensum, für das er angeblich jeden Tag mehrere Stunden benötigt, in zehn Minuten bewältigen. Natürlich mache ich auch keine Anstreichungen, vielleicht ist mein Germanistikstudium deshalb so unbefriedigend verlaufen.
In der so eingesparten Zeit könnte man jetzt eigentlich doch noch ein paar Stunden schlafen, aber ich habe zu tun. Ich muss mich der Welt stellen und aufmerksam notieren, was mir Grund zum Mißmut gibt. Angefangen bei dem Wasserfleck an der Decke, der sich zum Glück direkt über meinem Kopfkissen befindet. So kann ich die erste Kritik an der Welt bereits im Liegen üben. Der Wasserfleck ist vor mehreren Monaten aufgetaucht, und er wird unleugbar größer. Außerdem schimmelt er, und ich frage mich jeden Morgen, ob die Schimmelsporen wohl unablässig auf mein Gesicht herabrieseln und mich im Schlaf vergiften. Wenn es so ist, bin ich verloren, denn die schwierigen Wasserfleckumstände machen eine Beseitigung des Problems unmöglich, jedenfalls für mich, und das selbst an den Tagen, an denen ich nicht Jochen Schmidt bin.
Ich sollte den Wasserfleck meinem Vermieter zeigen, was nicht geht, denn dazu müsste ich aufräumen und putzen. Bis dahin könnte ich wenigstens die schimmelnde Tapete entfernen, aber die lange Leiter steht im Büro. Ich kann die Leiter nicht nach Hause tragen, denn sie ist voll weißer Leimfarbe. Und angenommen, es gelänge mir, die Leiter in Kreuzberg zu waschen (was angesichts
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