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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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grüßen.
    – Der Chirurg, der sich nach acht Stunden Operieren die blutigen OP-Handschuhe von den Händen zerrt, während ihm die Schwester berichtet, daß seine Frau angerufen hat, um ihm mitzuteilen, daß sie sich scheiden lassen will.
    – Der Special Agent, der mit beiden Händen den Revolver haltend eine Seitwärtsrolle aus der Deckung heraus macht und, auf der anderen Seite des Flurs an die Wand gekauert, achtlos das leere Magazin wegwirft.
    – Der Taxifahrer, der das Funkgerät aus der Halterung nimmt und durchgibt, daß er die Fuhre (?) übernehmen kann. (Aber was ist, wenn mich das plötzlich so eifersüchtig macht, daß ich ihn immer neue Fahrtziele ansteuern lasse?)
    – Der Fußballtrainer, der seinem sich zu ihm hinüberbeugenden Assistenztrainer zuflüstert, welche Spieler er zum Warmmachen schicken soll.
    – Der Fachverkäufer, der auf dem Weg zum nächsten Kunden kurz bei einem anderen Kunden stehenbleibt, um ihm zu sagen, daß dieses Modell nicht mehr hergestellt wird.
    – Der Kapitän, der im Sturm das Ruder herumreißt wie ein Glücksrad.
    Sodom und Gomorra, S. 210–232
    Der erste Aufenthalt an einem Ort ist von einer anderen Qualität als alle folgenden. Marcel hatte die Fremdheit der Möbel in seinem Zimmer in Balbec beim ersten Besuch ja so geängstigt, daß er sich schrecklich vor der Nacht fürchtete. Diesmal ist er auf bereits erobertem Terrain, aber dafür fehlt der Reiz des Neuen. Wie soll man sich an einem Ort, den man schon kennt, in eine Frau verlieben oder wenigstens von unbekannten Mädchen träumen? Er fürchtet schon, in Zukunft immer neue Hotels aufsuchen zu müssen, » in denen die Gewohnheit noch nicht auf jeder Etage, vor jeder Tür den erschreckenden Drachen erlegt hätte, der vor einer verzauberten Existenz zu wachen schien «.
    Beim Aufbinden seiner Schuhe hatte er eine unwillkürliche Erinnerung an die Großmutter und ein Jahr nach ihrem Tod plötzlich die Tatsache ihrer Abwesenheit begriffen und jähen Kummer empfunden. Deshalb möchte er nicht gestört werden, und auch die Marquise de Cambremer, die ihre Karte abgibt, um ihn auf ihr Anwesen einzuladen, kann ihn nicht locken, obwohl sie eine » Kalesche mit acht Federn « hat, die jeder in der Gegend schon am Klang erkennt. Marcel will auch Albertine noch nicht sehen, » der Kummer hatte in mir die Möglichkeit des Verlangens ebenso vollkommen ertötet, wie einem ein starkes Fieber den Appetit benimmt «.
    Er vergleicht diesen Schmerz mit dem der Mutter, die beim Tod der Großmutter ja ganz unmittelbar gelitten hatte. Sie wird im übrigen am nächsten Tag in Balbec eintreffen. » Es schien mir, ich sei weniger unwürdig, mit ihr zusammen zu leben, werde sie besser verstehen, jetzt, wo ein ganz fremdes und herabwürdigendes Leben dem Wiederaufkommen herzzerreißender Erinnerungen Platz gemacht hatte, die wie eine Dornenkrone meine Seele nunmehr gleich der ihren umflochten und adelten. « Was wir zuletzt studieren durften, die Berichte von geistvoller Herzlosigkeit der Salons, waren also Aufzeichnungen aus einem herabwürdigenden Leben. Erst der Schmerz um die Großmutter hebt ihn auf eine seelische Stufe mit der Mutter, beide sind nun Heilige. Aber es gibt immer noch zwei Sorten Schmerz, den einen, der einem » für immer das Leben raubt «, und den anderen, der wieder vergeht, nachdem er sich verspätet eingestellt hat, » weil man, um ihn zu fühlen, ihn erst ›verstehen‹ muß «.
    Die Mutter aber leidet am Schmerz der ersten Kategorie, und zudem ist sie nach dem Tod ihrer Mutter anscheinend in deren Rolle geschlüpft und wirkt auf Marcel wie die verstorbene Großmutter selbst. Als sei sie in der Tradition der herrschenden Adelsgeschlechter nach dem Tod des Chefs in der Hierarchie aufgerückt. Was sie zu Lebzeiten der Großmutter noch von dieser unterschieden hatte, die vom Vater ererbte spöttische Heiterkeit, wird jetzt abgelegt. So geschieht es uns mit einer heißgeliebten Person: » Ist sie einmal gestorben, so würden wir Bedenken haben, anders als sie zu sein, wir bewundern einzig, was sie gewesen ist, also das, was wir zwar schon waren, doch mit anderen Zügen vermischt, und was wir von da an künftig nur mehr ausschließlich sind. « Insofern wirkt der Mensch als Toter mehr auf uns, als er es im Leben getan hat. Die Mutter hält die Exemplare der Briefe der Madame de Sévigné aus dem Besitz der Großmutter in Ehren, sie würde sie nicht einmal für das Originalmanuskript dieser Briefe hergeben, es sind ja

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