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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Reliquien. Vielleicht würden wir das Originalmanuskript der Zehn Gebote auch verschmähen, wenn wir dafür die Hausbibel von Proust haben könnten.
    Versonnen schreitet die Mutter den Strand ab, als suche sie nach der Verstorbenen, die ja hier ebenfalls Urlaub gemacht hatte. Es ist für sie eine Pilgerfahrt. Beileidsbekundungen ihr unbekannter Hotelgäste sind ihr wichtig, doch: » Die bewegten Worte des einen und das Schweigen der anderen waren, obwohl meine Mutter einen so großen Unterschied dazwischen sah, nur verschiedene Formen, Gleichgültigkeit auszudrücken, welche wir den Toten gegenüber hegen. « Ein Problem, für das man nie eine Lösung findet.
    Marcels Erinnerungen an die letzte Lebenszeit der Großmutter werden wach. Seine Schuldgefühle wachsen, weil er erfährt, wie krank sie schon gewesen war und daß sie das sorgsam vor ihm verheimlicht hatte. Daß die Tür zur Treppe am Tag ihres letzten Spaziergangs offengestanden hatte, fällt ihm wieder ein, und neben solchen Erinnerungen kommt ihm » die übrige Welt kaum wirklich vor «. Die Mutter überredet ihn auszugehen, aber beim Spazieren wird er ständig von Vergegenwärtigungen vergessener Aspekte des Orts überwältigt, die ihn am Weiterschreiten hindern, » ähnlich wie ein Wind, gegen den man nicht ankämpfen kann «. Deshalb schlägt er die Augen nieder. Aber es ist auch keine Lösung, ständig den Urlaubsort zu wechseln. Oder doch? Aber den Kindern hatte es dort so gefallen.
    Wie schwer er es hat verglichen mit diesem kleinen Pagen, der den ganzen Tag auf der Schwelle des Hotels steht und zum Gruß seine Mütze lüftet: » Tatsächlich verstand dieser junge Mann auf der Welt nichts weiter, als die Mütze zu ziehen und wieder aufzusetzen, dies aber in Vollkommenheit. Da er seine Unfähigkeit zu irgendeiner anderen Sache begriffen hatte, führte er wenigstens diese so gut und so häufig aus, wie er es nur irgend am Tage tun konnte, was ihm von seiten der Gäste eine diskrete, aber durchgängige Sympathie eintrug. « Und heute steht dort kein mützenlüftender Page, sondern ein Computer, mit dem man für fünf Euro die Minute surfen kann. Wie schade, wenn man dazu geboren ist, den ganzen Tag Ankommende zu begrüßen, man wird, da dieser Beruf ausgestorben ist, für immer ein falsches Leben führen.
    Lange starrt Marcel auf das Foto der Großmutter, das sie von sich hatte anfertigen lassen, als es ihr schon sehr schlecht ging. Er blickt darauf, » starr wie auf eine Zeichnung, die man schließlich nicht mehr sieht, weil man sie zu lange angeschaut hat «. Als Albertine kommt, läßt er sie wieder wegschicken, die Ikone der Großmutter hat noch einmal gewirkt. Erst an einem warmen Morgen, als alles sehr heiter und badeortartig wirkt, verspürt er plötzlich den Wunsch, » das Lachen Albertines wiederzuhören «. Aber als sie dann kommt, ist das Wetter wieder schlechter, sie lacht nicht, sondern ist schlechtgelaunt, denn der Ort langweilt sie, und sie will zurück nach Paris. Wenn sie an diesem Ort nicht ist wie damals, ist sie für ihn natürlich wertlos. Er begleitet sie nach Hause und nutzt den Rückweg für einen einsamen Spaziergang, auf dem er geblendet ist von der luxuriösen, aber doch ganz natürlichen Blüte der Apfelbäume, die » wie Bauern auf einer großen französischen Landstraße standen «. Blaumeisen hüpfen zwischen den Blüten hin und her, der Himmel ist azurblau, am Horizont sieht man das Meer. Dann kommt ein Platzregen und die Blüten stehen im eisigen Wind. Auch ein zum Leiden und zum Kult der Großmutterikone entschlossener Schmerzensmann kann sich dem Frühling nicht verschließen. Dieser bretonische Naturmoment ist Proust immerhin ein Kapitelende wert.
    Verlorene Praxis:
    – Ein Leben führen, » bei dem man nur nach Hause kommt, um die Krawatte zu wechseln «.
    – Aus einem Verniedlichungsbedürfnis den Namen »Fénelon« »Fénélon« aussprechen.
    – Sich aus den Hotels, in denen man arbeitet, » durch Persönlichkeiten verschiedenen Herkunftslandes und Geschlechts « locken lassen und zum Beispiel einer polnischen Gräfin folgen, die einen als Sekretär engagiert.
    – Als » Liebhaber magdlicher Frauenschönheit auf klug gewählten Umwegen « in die kleinen Kammern der Zimmermädchen gelangen.
    100 . Sa, 28.10., Berlin
    Mein Beziehungsideal ist für alle Zeiten von dem Paar geprägt, das auf der Packung des »SuperHirn«-Spiels von Parker zu sehen war. Vor dem schwarzen Hintergrund eines unergründlichen Raums sitzt

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