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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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nicht der neben ihm sitzenden Herzogin, sondern den Bordellmädchen, die ihm Saint-Loup in Aussicht gestellt hat. In seiner Phantasie » verdichteten sich in diesen beiden Personen, die zu einer verschmolzen, alle Liebeswünsche, welche mir täglich so viele Schönheiten zweier verschiedener Klassen einflößten, einerseits die Gewöhnlichen, Üppigen, die majestätischen Kammerfrauen aus großen Häusern, […] andererseits jene jungen Mädchen, bei denen es mir manchmal genügte, ohne daß ich sie auch nur hatte vorübergehen oder -fahren sehen, ihren Namen in einem Ballbericht gelesen zu haben, damit ich mich in sie verliebte «. In welchem Beruf darf man sich die gewöhnlichen, üppigen, majestätischen Kammerfrauen wohl heute vorstellen? Als Hockey-Spielerinnen? Oder als Aufgießerinnen in der Sauna?
    Das Schöne an den Bordellmädchen ist, daß er jederzeit hingehen könnte! » Ich schob die Stunde noch hinaus, in der ich mir dieses doppelte Vergnügen verschaffen wollte, so wie ich es mit dem Beginn der Arbeit tat, aber die Gewißheit, es mir verschaffen zu können, sobald ich irgend wollte, enthob mich fast der Notwendigkeit, es auch wirklich zu tun, wie man Schlaftabletten nur in Reichweite haben muß, damit man sie gar nicht braucht und auch so einschläft. « Ich fühle mich ja auch viel ruhiger, seit ich neben diesem Etablissement wohne, in dessen Fenster steht: »Wir verwöhnen sie mit Massagen und vieles mehr.« Es genügt, es in Reichweite zu haben, man muß dann gar nicht mehr hingehen, um einschlafen zu können.
    Am Eingang seiner Wohnung wird der Herzog von zwei Verwandten abgepaßt, die ihm schließlich doch noch die Nachricht vom Tod seines Vetters bringen. Jetzt gibt es eigentlich kein Entkommen, er ist zum Trauerschieben verdammt. Aber er reagiert geistesgegenwärtig, in der Art der nordkoreanischen Führungsriege nach dem Tod des geliebten Führers Kim Il-Sung: » Er ist tot! Aber nein. Das ist bestimmt übertrieben! « Der Herzog läßt sich von seinem Kostümball nicht abbringen, zu dem es später ja noch gehen soll. Ich frage mich, woher diese Herrschaften ihre Kondition nehmen, es ist 23.45 Uhr, sie kommen gerade von einer Soiree nach Hause und gehen gleich anschließend zu einem Kostümball?
    Zu Hause erwartet Marcel jede Minute Albertine, eigentlich sollte sie schon da sein, er hatte sie doch herbestellt. » Ich war entsetzlich beunruhigt, da mir Albertines Besuch jetzt um so wünschenswerter schien, je weniger sicher er war. « Er kann nur warten und ist damit schon der Dumme, wie Roland Barthes schreibt: »Die fatale Identität des Liebenden ist nichts anderes als dieses ich bin der, der wartet .« Trifft Albertine ein, so wird die Concierge den Lichtschalter für die Treppe bedienen, er muß also nur auf den Streifen gedämpftes Licht schauen, den die zu kleine Gardine der Glastür hereinfallen läßt. In diesem Moment » bereitete mir die mögliche Entziehung eines einfachen physischen Genusses ein grausames seelisches Leiden «. Es ist dasselbe Muster, wie früher, wenn Gilberte zu kommen zögerte. Das Telefon steht bereit, dessen Klingeln, damit es die Eltern nicht stört, durch ein Schnarren ersetzt worden ist. » Aus Furcht, es nicht zu hören, rührte ich mich nicht. Meine Unbeweglichkeit war so vollkommen, daß ich zum ersten Mal seit Monaten das Ticktack der Wanduhr wahrnahm. « Jede Errungenschaft der Technik kleidet unser Leid in ein neues Gewand: Auf einen Brief wartet man nur zu den Zeiten der Brieflieferung, auf einen Anruf kann man den ganzen Tag über warten, mit einem Handy sogar an jedem Ort der Welt. Die Möglichkeiten für unglücklich Verliebte, sich zu quälen, werden immer umfassender.
    Als Françoise hereinkommt und etwas Belangloses zu ihm sagt, muß er fürchten, das Telefon nicht schnarren zu hören, und sein Gesicht wirkt so unglücklich, » daß ich behauptete, ich verspüre rheumatische Schmerzen, um das Mißverhältnis zwischen meiner angeblichen Gleichgültigkeit und meinem leidenden Ausdruck zu erklären «. Und das alles wegen » der gleichen Albertine, an die ich während der Soiree bei den Guermantes keine drei Minuten gedacht hatte «. Aber dann schnarrt es doch noch unverhofft, Albertine ist am Apparat. Er unterdrückt seine Freude und fragt in möglichst gleichgültigem Ton: » Kommst du noch? « » Eigentlich … nein, wenn du mich nicht absolut noch brauchst. « Diese Frau weiß, wie man sich einen Platz in der Weltliteratur sichert!
    Unklares

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