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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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längst ein Eis dieses Namens.
    Marcel hat rechtzeitig Erkundigungen eingezogen, ob die ebenfalls nach La Raspelière eingeladene Baronin Putbus ihre Jungfer mitzunehmen gedenkt: » Von da an war ich ruhig und zufrieden, dies Eisen im Feuer zu haben «, und das, obwohl » keine wesensmäßige Verbindung zwischen der Jungfer und der Region von Balbec « besteht. Egal, denn es wird » das Gefühl für die Wirklichkeit dort nicht […] durch die Gewohnheit abgeschwächt sein «, anders als in Paris, wo » die Lust in der Gesellschaft einer Frau « ihm nicht » inmitten der alltäglichen Dinge die Illusion des Zugangs zu einem neuen Leben « verschaffen kann. Aber warum eigentlich nicht? Um einmal vom Wechsel der Kommentatorenperspektive Gebrauch zu machen, möchte ich vermuten, dass Marcel sich nicht sehr für das interessiert, was innendrin ist in den Frauen, sondern eigentlich nur für ihre wesensmäßigen Verbindungen zu Regionen. Klar, dass es dann nicht klappt mit dem Zugang zum neuen Leben.
    Aber alle Frauenangelegenheiten treten jetzt erst einmal in den Hintergrund, denn obwohl Marcel sich sehr langsam und vorsichtig bückt, um die Schuhe auszuziehen, wird er im selben Moment von einer » unwillkürlichen und vollständigen « Erinnerung an seine Großmutter übermannt, die ihm vor etwa tausend Seiten am ersten Abend in Balbec die Stiefel aufgeknöpft hat. » Und so, in einem wahnsinnigen Verlangen, mich in ihre Arme zu stürzen, erfuhr ich erst jetzt, in diesem Augenblick, mehr als ein Jahr nach ihrer Beerdigung – auf Grund jenes Anachronismus, durch den so oft der Kalender der Tatsachen mit dem Kalender der Gefühle nicht zusammenfällt –, daß sie gestorben war. «
    In der Folge wird ausführlich gelitten, das schlechte Gewissen über alles der Großmutter Angetane quält ihn, aber auch dieses Leiden ist ein weitgehend selbstbezogenes, » ich wollte nicht nur leiden, sondern auch die Originalität meines Leidens achten, so wie ich es plötzlich und unwillkürlich erlebt hatte, ich wollte es auch weiter erleben «. Er hofft, aus diesem » so schmerzlichen und im Augenblick unbegreiflichen Eindruck « eines Tages ein wenig Wahrheit zu ziehen, und begeistert sich an dem eigenartigen, spontanen Eindruck, » den nicht mein Verstand in mich eingezeichnet und mein Kleinmut abgeschwächt hatte «. Wäre das Buch fünfzig Jahre später entstanden, dürfte man für später mit Einblicken in ein höchst kompliziertes Sexualleben rechnen, voll vom Verstand eingezeichneter und vom Kleinmut abgeschwächter Eindrücke.
    Es folgt ein langer Traum, in dem Marcel vergebens nach seiner Großmutter sucht, die » noch existierte, aber mit einem verminderten Leben, das blaß wie das der Erinnerung war «. Ich träumte kürzlich von Günter Grass und seiner SS-Mitgliedschaft. »Hoffentlich hat er sich nicht mit der Begründung zu entschuldigen versucht, es sei ja alles lange her«, dachte ich im Traum besorgt, »als Schriftsteller muss er doch wissen, dass alles gleichzeitig stattfindet.« Aber wie Marcel, dessen Traum mit den Worten » Hirsch, Hirsch, Francis Jammes, Gabel « endet, erging es auch mir: Schon war der Traum vorbei, » und wenn ich nun wiederholte: ›Francis Jammes, Hirsch, Hirsch‹, so bot mir die Folge dieser Worte nicht mehr den durchsichtigen Sinn und die Logik dar, die sie so natürlich für mich vor einer Sekunde noch gehabt hatten, an welche ich mich aber nicht mehr zu erinnern vermochte «.
    Unklares Inventar:
    – Schon wieder Zinerarien.
    Verlorene Praxis:
    – Aus seinen Augenlidern ein paar Tropfen auf einen Topf mit Vergißmeinnicht fallen lassen.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Denn mit den Störungen des Gedächtnisses ist eine Intermittenz, ein Versagen auch des Herzens verbunden. «
    99 . Fr, 27.10., Berlin
    Man verbringt seine Zeit damit, von etwas anderem als dem zu träumen, womit man seine Zeit verbringt. Jeder andere Beruf scheint attraktiver als der des Schriftstellers. Das Beiläufige an bestimmten professionellen Gesten hat mich immer fasziniert:
    – Der Gitarrist, der – anscheinend als einziger völlig ungerührt von der Ekstase, in die er den Saal versetzt – mitten im Solo ganz sachlich mit dem Fuß eines der Effektpedale betätigt.
    – Der Cowboy, der seinen Hut in die Stirn oder in den Nacken schiebt, was beides toll aussieht und bei langen Ritten abwechselnd für Abwechslung sorgt.
    – Der Busfahrer, der die Hand hebt, um den entgegenkommenden Kollegen zu

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