Schmidt Liest Proust
ein bärtiger, graumelierter Herr im Sessel und richtet seinen selbstbewußten, fast schon arroganten Blick auf den Betrachter. Die Fingerspitzen ruhen aneinander, so daß die Hände ein Dreieck bilden, was auf geistige Spannkraft schließen läßt. Hinter ihm steht eine Asiatin und stützt sich mit der rechten Hand auf die Sessellehne, der linke Arm hängt elegant herab, das Handgelenk schmückt ein Edelsteinarmband. Nicht genug damit, daß der brillante Geist dieses Herrn ihn zum König des SuperHirn-Spiels gemacht hat, er hat es auch vermocht, mit der Kraft seiner Logik diese exotische Frau zu zähmen, bei der jeder andere zu fürchten hätte, daß sie ihn auf eine nur noch ihr bekannte, traditionelle Art zur Strecke bringen würde, sobald er ihr einmal den Rücken zukehrte. Wie ein Torero, der auf Knien das Publikum grüßt, den Stier im Nacken, sitzt der Mann da und sieht uns über die spiegelnde Tischfläche hinweg herausfordernd an, die Asiatin hinter sich wissend. So stellte ich mir meine Ehe vor.
Sodom und Gomorra, S. 233–253
Jajajajaja, ich verstehe schon, sagt man sich manchmal bei Proust, wenn man in der Inszenierung der Biographie seiner Psyche die Regieanweisungen mitlesen muss. Natürlich kann er die eben entworfene Apfelbaumidylle nicht einfach so stehenlassen. Aus Furcht, » das Vergnügen, das ich an diesem einsamen Spaziergang gefunden hatte, könne in mir die Erinnerung an meine Großmutter abschwächen «, ruft er sich in der Art eines Büßers sofort wieder zur Ordnung, indem er sich die seelischen Leiden der Großmutter vorstellt. » Aber da mein Herz ohne Zweifel zu klein dafür war, hatte ich nicht die Kraft, einen so großen Schmerz zu tragen. « Sogar in seinen Träumen läßt sein Kummer um sie schon nach, sie wirkt darin gar nicht mehr richtig krank.
Trotzdem leidet sein physisches Verlangen immer noch unter dem Trauerzustand, und schlimmer, Albertine beginnt, ihm » etwas wie ein Verlangen nach Glück einzuflößen. Gewisse Träume von geteilter Zärtlichkeit, die immer in uns lebendig sind, heften sich gern durch eine Art von Affinität der Erinnerung (unter der Voraussetzung, daß diese bereits ein wenig verschwommen ist) an eine Frau, mit der wir einen Augenblick des Glücks gekostet haben «. Die Träume drängen dann aber doch nicht so stark nach Erfüllung, insofern würde es ihm reichen, sie erst im folgenden Winter wiederzusehen.
Doch dieser Zustand hält nicht lange an, denn immer, wenn er sich im Bett ausruht, sehnt er Albertine herbei, » um unsere Spiele von ehedem mit ihr wieder aufzunehmen «. Was tut man, um sich vom störenden Verlangen nach Spielen mit einer Freundin abzulenken? Marcel tritt ans Fenster und betrachtet das Meer. Ob das ein probates Mittel ist? Was tatsächlich funktionieren könnte, wäre eine Lektüre von Prousts Meeresbeschreibungen, denn die scheinen wie das Meer, vom Ufer betrachtet, unendlich. (Aber kann Lesen vom Verlangen nach Spielen wirklich ablenken? Jemand hat ja einmal behauptet, ein aufgeschlagenes Buch sehe aus wie ein Hintern, woran ich seitdem immer denken muß, auch wenn ich nie darauf gekommen wäre.)
» Einmal, als ich meinem Verlangen nicht widerstehen konnte, kleidete ich mich an, anstatt mich wieder hinzulegen, und machte mich auf, um Albertine in Incarville aufzusuchen. « Ob er damit gut beraten ist? Würde man sich doch immer wieder hinlegen, statt sich anzukleiden … Zum Glück fällt ihm in der Straßenbahn beim Schließen der Vorhänge die Großmutter wieder ein, die damals, bei der ersten Abreise nach Balbec nicht mitansehen konnte, wie Marcel im Zug gegen seine Nervosität Bier trank. Die aufkommenden Schuldgefühle tun ihm gut: » Eine solche Erinnerung hatte mir wie mit einem Zauberstab die Seele wieder verliehen, die ich seit einiger Zeit zu verlieren im Begriff gewesen war. « Sofort ändert er den Plan und steigt schon in Maineville-la-Teinturière aus, wo ein » Vergnügungslieferant « neuerdings ein » öffentliches Haus für anspruchsvolle Gäste « betreibt, das einzige seiner Art in Frankreich, nicht zu vergleichen mit den Hafenbordellen für » Seeleute und Liebhaber malerischer Eindrücke «, vor deren übelbeleumundeter Pforte immer eine » patronne « steht, » verehrungswürdig und von Verwitterung bedroht «.
Er kehrt aber nicht im Bordell ein, sondern wandert auf den Dünen zurück nach Balbec, den » Ruf der Weißdornhecken « vernehmend. Im Hotel liest er eine Todesanzeige für »
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