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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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irgend etwas ans Herz legen wollte, auf der Stelle erklärte: ›Jajajajaja, ich verstehe schon‹. «
    Bewußtseinserweiterndes Bild:
    – » Ein Schleppdampfer, von dem man nur den Schornstein sah, rauchte in der Ferne wie eine weit vorgeschobene Fabrik. «

101 . So, 29.10., Berlin
    Heute bin ich unruhig, weil mir schon morgens wieder klar geworden ist, daß ich emotional keinen Schritt weiter bin als Proust, und das fast hundert Jahre nach seinem Tod. Ich habe mich zum Beispiel immer noch nicht ganz von dem Gedanken verabschiedet, irgendeine Hollywoodschauspielerin könnte sich bei einem Berlin-Besuch in mich verlieben, wenn sie mich in der U-Bahn ein Buch lesen sieht. Sie würde sich dann wie vom Pferd gefallen fühlen, sich aus ihrer Entourage lösen und mir ihr Leben zu Füßen legen, als gehe sie ins Kloster.
    Vielleicht wird das aber nie passieren, oder ich bin, wenn es soweit ist, schon verheiratet, oder ich kenne die Schauspielerin gar nicht, weil ich nicht mehr ins Kino gehe, oder sie sieht nicht aus wie Elizabeth Taylor, oder ich habe das Buch vergessen, oder ich bin beim Lesen eingenickt, oder an dem Tag unserer Begegnung ist Pendelverkehr zwischen Senefelder und Danziger. Vor meinem Lebensglück stehen zu viele Fragezeichen.
    Außerdem werde ich heute keine Zeit für meinen Mittagsschlaf haben. Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlaf Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler. Die Ohren verstöpselt, die Augen von einer Outdoor-Schlafmaske abgeschirmt, bin ich wenigstens einmal am Tag konzentriert. In den Minuten vor dem Einschlafen ergibt plötzlich alles einen Sinn. Ich denke dann an meine künftigen Erfolge, rechne meine Jahreseinnahmen aus, zähle durch, wieviel Bücher ich bis vierzig noch veröffentlichen kann, halte provokante Preisreden und nehme versöhnliche Ehrendoktorwürden entgegen. Ich sehe mich ein harmonisches Leben im Kreise meiner Assistentinnen führen, die mir zujubeln, während ich, für einen Amateur völlig überraschend, den New-York-Marathon gewinne. Diese Bilder aus so unterschiedlichen Lebensbereichen fügen sich in den kostbaren Minuten vor dem Einschlafen zu einem erstaunlich harmonischen Ganzen. Eine Viertelstunde nachdem ich eingeschlafen bin, tauche ich dann, wie aus einem Strudel gerissen, wieder auf. Das leichte Kopfweh, das mir den Vormittag verdorben hatte, ist verflogen, die vom Training müden Beine brennen nicht mehr. Ich sehe ungläubig auf die Uhr, dem Gefühl nach habe ich Stunden geschlafen, so weit weg war ich von allem, es sind aber nur fünfzehn Minuten vergangen. Und der heutige Tag, an dem ich diese fünfzehn Minuten nicht haben werde, erscheint mir jetzt schon verloren.
    Sodom und Gomorra, S. 253–273
    Genau wie ich muß Albertine in fünf Minuten los, allerdings um eine Dame in Infreville zu besuchen, die jeden Tag um fünf Uhr empfängt. Natürlich macht Marcel das eifersüchtig, zumindest regt sich in ihm die » latente Liebe, die man unentwegt in sich trägt «. Er nimmt Albertine vier Seiten lang ins Kreuzverhör und beweist ihr, daß es keinen Grund gibt, ihm diese mysteriöse Dame vorzuziehen. Dabei hat Albertine ihn eben noch » aufs leidenschaftlichste « ihrer Liebe versichert. Natürlich hindert einen das nicht, kurz darauf zu einem von einer kleinen Lüge gedeckten Rendezvous zu verschwinden. Er weist ihr ihre Widersprüche nach, aber es ist auch ein bißchen ungerecht, der Autor läßt ihm ja das letzte Wort, so daß die Sympathien bei ihm liegen. Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammenlebt und am Ende ihres Lebens zwei ebenso umfangreiche und einander ebenbürtige Romanzyklen vorliegen, in denen nichts die gleiche Deutung erfährt.
    Marcel wechselt in seiner Haltung zu ihr von Zorn zu einem » Zustand der Waffenruhe « bis zu » freundlicher Geneigtheit «, die aber auch nicht lange anhält. Inzwischen ist er nämlich hellhörig geworden für ihre latenten lesbischen Anwandlungen, und er registriert genau, wenn ihr Blick, sobald sie ein entsprechendes Mädchen sieht, » die

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