Schmidt Liest Proust
hängen sieht, von den schonungslosen Dingen hervorgelockt, die man ihr gesagt hat.
– Jeden Morgen im Morgenkleid durch ein Pförtchen das Pfarrgärtchen aufsuchen, um die Pfauen zu pfüttern.
102 . Mo, 30.10., Berlin
Die Redaktionssitzung der kleinen Literaturzeitschrift, für deren aktuelle Ausgabe ich Gastredakteur bin, fand im Wedding statt. Der Flur des Hauses wirkte wie unsere Flure früher im Osten, als hätte man einfach die Seiten vertauscht, was man durch Umbenennung der Himmelsrichtungen auch einfacher hätte haben können. Das Abendlicht, das durch die gemusterten Preßglasscheiben fiel, der Geruch von abgestandener Erbsensuppe, das alte, blankgescheuerte Linoleum, die Fassade auf dem Hinterhof, von der der Putz abblätterte. So hatte ich es haben wollen, als ich aus dem Neubau in den Altbau zog, und so war es damals auch noch bei uns.
Da die anderen Redakteure seit fast zwanzig Jahren mit Einsendungen für ihr Heft zu tun haben, kennen sie ihre Pappenheimer. Es gibt, das kann man sagen, wenige Texte, die nicht so sind, wie sie nicht sein sollten. Ich weiß jetzt, was nicht gut ankommt: Texte, in denen über die Bahn geschimpft wird, Texte, in denen der Autor behauptet, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären wie er, Texte über junge Väter, Texte, in denen am Ende aufgewacht wird, Katzentexte, Märchen, Texte über peinliche Prominente, Texte über Drogen, Texte übers Schreiben, lange Texte.
Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich selten vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf drei- bis viertausend Zeichen zu kürzen, hätte er eine Chance, von uns gedruckt zu werden.
Sodom und Gomorra, S. 273–293
Madame de Cambremer und ihre Schwiegertochter Madame de Cambremer-Legrandin sind sich uneinig über Chopin, die ältere ist » noch in der Verehrung Chopins erzogen worden « und hat ihren Anschlag bei einer Lehrerin erlernt, die Chopin noch hat spielen hören.
Marcel möchte sich gegenüber Madame de Cambremer-Legrandin für Chopin einsetzen und wendet dabei eine interessante Gesprächstechnik an: » Ich machte mir ein Vergnügen daraus, sie darüber zu belehren – doch nur, indem ich mich in dieser Absicht an ihre Schwiegermutter wendete, so wie man beim Billardspiel, um eine Kugel zu treffen, über die Bande spielt –, daß Chopin, weit entfernt, aus der Mode zu sein, der Lieblingskomponist Debussys sei. «
Madame de Cambremer-Legrandin hat bei den Cambremers übrigens eingeheiratet, um das Vergnügen auskosten zu können, dann einen Onkel namens » de Chenouville « zu haben, und ihn, einer Familientradition gemäß, » Onkel de Ch’nouville « auszusprechen. Ein etwas dürftiger Anlaß für eine Eheentscheidung, möchte man meinen.
Leider kann niemand verhindern, daß die Madame Marcel eine Einladung ausspricht, sie will ihm Chopin vorspielen. Vielleicht findet er ja noch eine Ausrede, es würde dem Buch guttun. Als sie schließlich endlich in ihre Kalesche steigt, heißt es: » Der Gerichtspräsident erwies mir, ohne es zu wollen, einen sehr großen Dienst, indem er die Marquise am Arm faßte, um sie zu ihrem Wagen zu führen. «
Albertine folgt ihm auf sein Zimmer und will wissen, was er gegen sie habe, weil er so oft unfreundlich zu ihr sei. Der Schlingel sucht aber nicht die Versöhnung, sondern setzt noch einen drauf, mit dem Ziel, » meine Freundin zu mir in eine Situation von Furcht und demütigem Flehen zu bringen «. Er lügt ihr nämlich vor, insgeheim eine große Leidenschaft für Andrée zu hegen, ein falsches Geständnis, bei dem ihm dennoch die Tränen kommen. Um noch glaubwürdiger zu erscheinen, gesteht er zudem ein, sich früher einmal fast in Albertine verliebt gehabt zu haben. Dieses widersprüchliche Verhalten findet er typisch für Menschen wie ihn, die zu sehr an sich selbst zweifeln, um an die Liebe einer Frau glauben zu können. Sie wissen, » daß ihre Gefühle, ihre Handlungen in keinem nahen und notwendigen Zusammenhang mit der geliebten Frau stehen, sondern neben ihr herlaufen, sie zuweilen mit kleinem Wellenschlag berühren oder sie rings umfluten
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