Schmidt Liest Proust
ihn wegzubringen, aber darum ging es nicht, es war irgend etwas am Müllwegbringen, was einen existenziell quälte, vielleicht, daß man dafür die Wohnung verlassen mußte.
Faulheit? Oder wollte mich eine innere Stimme in die richtige Richtung lenken, nicht daß ich am Ende an solchen Dingen Freude empfände und vergäße, wozu ich eigentlich bestimmt war? Aber wenn man sich einmal ansieht, zu welchen Tätigkeiten ich nicht erst mühsam angetrieben werden mußte, was wollte mir meine innere Stimme dann damit sagen? Es waren Fußballspielen, Fernsehen, Kokeln und Topfschlagen. Wie konnte man aus diesen Interessen ein passendes Berufsbild ableiten?
Sodom und Gomorra, S. 293–313
In dem Moment, wo in Albertines Gesicht Trauer und Niedergeschlagenheit verschmelzen und es nicht mehr » die wache, lebensfrische Miene einer widerspenstigen, verderbten Katze mit kleiner rosa Stupsnase zeigte« , fühlt er, wie Güte ihn durchströmt. Das ist die Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, dem » rhythmischen Schwanken zwischen Liebeserklärung und Bruch (dem sichersten, dem so außerordentlich wirksamen und gefährlichen Mittel, um durch aufeinanderfolgende, entgegengesetzte Bewegungen einen Knoten zu schürzen, der sich nicht mehr lösen läßt und uns fest an eine Person bindet) «.
Er wirft ihr und Andrée offen vor, wie gewisse lasterhafte Frauen von » schlechtem Genre « zu sein. Aber was nützt es, sie zur Rede zu stellen? Sagt sie die Wahrheit, glaubt man ihr nicht, lügt sie, läßt man sich gern belügen. Gespräche mit der Geliebten laufen außer Konkurrenz: » Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, daß sie uns gleichzeitig mißtrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken. « Soll er sie so beurteilen, wie er sie erlebt oder sich daran erinnern, wie es Swann mit Odette ergangen ist? Jeder Mensch will ja einzigartig sein, aber gibt es wirklich so viele unterschiedliche Charaktere? Die Szene, die er ihr gemacht hat, hat sich jedenfalls gelohnt, denn am Ende ihres Zerwürfnisses » fuhr sie leicht mit der Zunge über meine Lippen, die sie dabei ein wenig zu öffnen versuchte «. Und ich hätte gedacht, sie wären eigentlich schon viel weiter gewesen.
Noch ist es nicht zu spät! Er kann sich immer noch ein nettes, unkompliziertes Mädchen suchen: » Ich hätte an jenem Abend abreisen sollen, um sie nie mehr wiederzusehen. Damals schon fühlte ich voraus, daß man in einer nicht erwiderten Liebe – man kann ebensogut sagen, in der Liebe überhaupt, denn für manche Wesen gibt es keine erwiderte Liebe – vom Glück nur dies Trugbild erleben kann, wie es mir in einem jener einzigartigen Augenblicke zuteil wurde, bei dem die Güte einer Frau, oder ihre Laune, oder der Zufall unseren Wünschen in vollkommener Harmonie mit den gleichen Worten und Handlungen entgegenkommt, als würden wir wirklich geliebt. «
Fürchte die heißen Tage, denn bei Marcel ist es so, daß, wenn es so heiß ist, daß » von der Stirn der auf dem Hof arbeitenden Knechte in der Sonnenhitze ein Tropfen Schweiß ganz senkrecht regelmäßig in gewissen Abständen niederfiel wie ein Wassertropfen aus einem Reservoir « – man könnte vielleicht auch kürzer sagen: »bei vierzig Grad im Schatten« –, er dazu neigt, Verabredungen abzusagen, um die Bekanntschaft einer Frau zu machen, von der man ihm bisher lediglich erzählt hat. In der Stadt und bei kaltem Wetter würde man sich in die gleiche Frau nicht verlieben.
Aber, wenn er ein geeignetes Opfer ausmacht, » so befand sich doch zwischen meinem Wünschen und dem Handeln, das in diesem Falle in der Bitte, sie küssen zu dürfen, bestanden hätte, ein undefinierbarer weißer Fleck aus Zögern und Schüchternheit «. Dafür gibt es natürlich Abhilfe. Er geht zum Konditor und nimmt acht (!) Glas Portwein zu sich. Danach scheint es ihm, » daß das junge Mädchen mir einfach zufliegen müsse «. Der Nachteil an dieser Methode ist lediglich, daß das junge Mädchen ja seinerseits keinen Portwein getrunken hat und deshalb nicht so klar wie der Junge erkennt, was ansteht.
Technikgeschichte: Die ersten Briefe einer Frau, als man noch Briefe schrieb: » Man möchte sie unaufhörlich bei sich haben wie Blumen, die man noch ganz frisch als Geschenk erhalten hat und die man unaufhörlich betrachten und deren Duft man aus immer größerer Nähe genießen kann. « Man
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