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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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wie die Woge, die sich an den Felsen bricht; das Gefühl ihrer eigenen Wandelbarkeit aber vermehrt bei ihnen noch die mißtrauische Befürchtung, daß diese bestimmte Frau, von der sie so gern geliebt sein würden, sie gewiß nicht liebt «. Und wenn der Zufall dem » Anbranden unserer Wünsche « so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, » daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird «. Und es ist ja nicht nur immer dieselbe » Sprache« , die uns bei jeder aufs neue dienen muß! Man kann sich natürlich immer in Frauen aus dem Ausland verlieben, dann muß man sich wenigstens sprachlich nicht wiederholen. Oder man lernt gemeinsam mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien der Liebessprache zu vermeiden. Oder man verzichtet aufs Sprechen und drückt seine Gefühle anders aus, zum Beispiel mit Stepptanz.
    Unklares Inventar:
    – Ranunculacee, Chiné-Seide.
    Verlorene Praxis:
    – Mit einer sanften Freundlichkeit zu ihr sprechen, die man sich seit so langer Zeit versagt hat und die einem nunmehr köstlich scheint.
    103 . Di, 31.10., Berlin
    Zur traditionellen »Traumzaubernacht«, in der die Kinder von Freitag bis Sonnabend im Kindergarten übernachten werden, sollen getrocknete Blätter mitgebracht werden. Es regnet aber, und ich bin zu faul, Laub zu sammeln. Ich weiß auch gar nicht, wo man Löschpapier zum Pressen kaufen kann. (Sachen, von denen ich nicht weiß, wo man sie bekommt: Schaumgummiüberzug für Kopfhörer, Schlafmützen.) Diese Maßnahme erinnert mich an die Methode, mit der einem in der Schulzeit immer die großen Ferien verdorben wurden, weil man zum ersten Schultag für den Biologieunterricht ein Herbarium anfertigen sollte. Ich habe das bis zum letzten Ferientag vor mir hergeschoben, um dann an einem trüben Sonntagnachmittag über nasse Wiesen zu irren, in der Hoffnung, vielleicht doch noch mehr als nur das gemeine Wiesengras zu finden, alles andere hätte man früher sammeln müssen. Zu Hause mußte man die kümmerlichen Fundstücke pressen und bestimmen.
    Pflichten schob man prinzipiell vor sich her, so daß man eigentlich immer bedrückt war und sich nie richtig frei fühlte. Heute sind es andere Pflichten, aber das Gefühl ist dasselbe, es liegt immer irgend etwas Unangenehmes an. Denkt man an damals, fragt man sich, warum man so gelitten hat, es war doch alles nicht so wichtig. Die anderen hatten natürlich die schöneren Herbarien (vom Familienurlaub im Ausland), manche hatten West-Tesafilm (der sogar klebenblieb), meine Schrift war die krakeligste von allen, die Bleistifthilfslinien ließen sich nicht richtig wegradieren. Aber wer spricht heute noch von seinen Herbarien?
    Ein ähnlich bedrückendes Gefühl kam auf, wenn man seine Mütze vergessen hatte und noch einmal zur Schule gehen und den Hausmeister danach fragen sollte. So einen schrecklichen Gang war mir eine Mütze natürlich nicht wert, aber meine Eltern fanden, ich müßte das lernen. Dabei gab es in unseren Schränken Mützen wie Sand am Meer. Aber man wurde dazu erzogen, unangenehme Pflichten hinter sich zu bringen, danach würde man sich besser fühlen, hieß es. Zweifellos fühlt man sich besser, wenn man es hinter sich hat, aber noch besser fühlt man sich, wenn es jemand anderes für einen macht.
    Dieselben Pflichten kehrten Jahr für Jahr wieder: sich eine Erfindung für die »Messe der Meister von Morgen« ausdenken, ein Objekt für die »Galerie der Freundschaft« basteln, Dankesbriefe für die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke schreiben, beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Obstkörbe verteilen, Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben, am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge, knisternde Pullover überstreifen. Dazu jede Woche fünf Mülleimer und Papierkörbe, die einen schon auf dem Hausflur erwarteten, wenn man am Sonnabend aus der Schule kam, und die man leeren und auswaschen mußte, weil sie nach ausgelaufener Milch und Kartoffelschalen stanken, trotz Zeitung am Boden. Besser, man brachte sie gleich runter, aber man konnte es auch aufschieben und erstmal fernsehen. Oder man versuchte, den Müll irgendwie zu komprimieren oder heimlich in der Wohnung zu verteilen, was viel länger dauerte, als

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