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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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liest sie immer wieder, man möchte » von neuem feststellen, in welchem Maße der eine oder andere Ausdruck von geheimer Zärtlichkeit zeugt «. Und man löscht sie erst vom Handy, wenn die nächste Frau aktuell wird, dann aber radikal und ohne Bedauern. Dabei sind die Arten des Verlangens weniger zahlreich als die Mädchen, denen sie gelten, so auch die anschließenden » Enttäuschungen und […] Traurigkeiten, die große Ähnlichkeit untereinander hatten «.
    Zwei private Bedienungen von ländlicher Abstammung kommen manchmal auf sein Zimmer und reden auf ihn ein, während er sein » Hörnchen in die Morgenmilch tauchte «. Aber die » mit ungebärdiger Natürlichkeit «, und dadurch schon fast » literarisch « vorgebrachten » aufrichtigen kritischen Bemerkungen « über ihn lesen wir erst morgen. Wenn dazu dann Zeit ist, wir müssen ja noch buntes Laub für die »Traumzaubernacht« pressen, den Müll trennen und dem Hausmeister zum Geburtstag gratulieren.
    Unklares Inventar:
    – Ballettratte.
    Verlorene Praxis:
    – Als Mutter fürchten, in ungeschickter Weise in das Leben des Sohns einzugreifen.
    – Als Frau die Lektüre eines jungen Mannes nicht nach dem beurteilen, was einen selbst schockiert.
    – Lust bekommen, ein herrliches Geschöpf in eine Tamariskenallee zu führen.
    – Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett.
    104 . Mi, 1.11., Berlin
    Von heute auf morgen ist ein Kommando von Bauarbeitern aufgetaucht, um am Kollwitzplatz meine Laternen auszutauschen, ohne die ich nicht mehr leben kann. Die RSL 1 (Rostocker Straßenleuchte) ist seit den Sechzigern vom VEB »Pößnecker Außenleuchten« hergestellt worden. Die neuen Masten stehen schon, sind aber noch in Zellophan verpackt, als seien sie ein Geschenk an die Bürger. Ich würde dem für diese Maßnahme Verantwortlichen gerne den Hals umdrehen. Vom Preis einer einzigen Laterne könnte ich einen Dreipersonenhaushalt vermutlich ein Jahr lang zum Essen einladen, und es bliebe am Ende sogar noch etwas übrig. Ich frage mich, warum ich ständig wählen gehen soll, wenn ich gegen solche Eingriffe in mein Leben nichts tun kann. Wie soll man die Klagen über die wirtschaftliche Misere dieser Stadt ernst nehmen, wenn man auf Schritt und Tritt beobachten muß, wie Dinge gegen Dinge ausgetauscht werden?
    Von mir aus können sie die ganze Stadt mit ihren Laternen spicken, aber müssen die alten Laternen verschwinden, wo es schon nur noch so wenig gibt, was es schon gab? Oft haben gerade die Laternen überlebt, weil sie dort oben keiner beachtet hat, sonst wäre der Fernsehturm vermutlich auch nicht mehr da. Vor unserem Haus in Berlin-Buch stand natürlich auch eine RSL 1, und wir haben immer vom Balkon aus versucht, den runden Blechdeckel mit Kartoffeln zu treffen. Sie hatte etwas Anthropomorphes, ein einbeiniger Mann mit Blechscheibe als Mütze. Es gibt ja kaum Lampen, die nicht scheußlich aussehen, und Laternen sind oft so abstoßend, daß man sich nicht mal daran aufknüpfen würde. »Nein! Nicht die Laternen!« möchte man rufen, wie im Film, wenn Soldaten eine Wohnung plündern und sich die Mutter schützend vor ihre Kinder stellt. Sie werden trotzdem verschleppt, und die Mutter sinkt schluchzend zusammen, sie wird ab jetzt nichts mehr essen und im Lauf des Films den Verstand verlieren. Ich habe kurz überlegt, ob ich es mit so einer Nummer beim Verantwortlichen der Laternenliquidierung versuchen sollte, aber ich finde immer, die Menschen sollen ihre Fehler selber einsehen und sich schämen, das ist doch wirksamer, als wenn man sie belehrt.
    Mit solchen Themen begeistert man vermutlich kein Massenpublikum. Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse. Es wird wohl darauf hinauslaufen, daß ich mit »Suchen und Ersetzen« für »Proust« und »Recherche« überall »Hitlerbrüste« und »Nazi-Diät« einsetze, man muß ja sehen, wo man bleibt. Die wenigen, die das Buch wegen Proust kaufen sollten, könnten das dann ja wieder rückgängig machen.
    Sodom und Gomorra, S. 313–333
    Endlich erfährt man, wie Marcel aussieht, und zwar aus dem Mund von Céleste, einer der beiden Dienerinnen ländlicher Abstammung, die ihn so gern auf seinem Hotelzimmer besuchen: » ›Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt,

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